Ein Apotheker am Medikamentenschrank
Bildrechte: picture alliance/dpa | Peter Kneffel

Die Lieferengpässe bei Medikamenten knackten 2023 erneut die Marke des Pandemie-Jahres 2020.

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Lieferengpässe bei Medikamenten erreichen neuen Höchstwert

Erst 2022, nun 2023: Die Lieferengpässe bei Arzneimitteln sind noch einmal größer geworden. Vor allem Antibiotika waren oft nicht lieferbar, Apotheken und Ärzte auf der Suche nach Ersatz. Und vermutlich wird es 2024 so weitergehen. Eine Datenanalyse.

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Bereits 2022 berichtete BR24: Die Lieferengpässe bei Arzneimitteln haben einen Höchststand erreicht. Für das Gesamtjahr 2022 wurden mehr Engpässe beim Bundesinstitut für Arzneimittel- und Medizinprodukte (BfArM) gemeldet als im Corona-Jahr 2020.

Eine aktuelle BR24-Datenauswertung zeigt jetzt: Die Lage hat sich nochmals deutlich verschlechtert. 2023 stieg die Anzahl der Lieferengpässe um fast 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Insgesamt betrafen 1.426 Meldungen beim BfArM das Jahr 2023. "Bei mir allein sind 450 Arzneimittel, die nicht lieferbar sind", sagt Margit Schlenk, die in der Stadt Nürnberg eine Apotheke betreibt. Um die Lieferfähigkeit ihrer Apotheke aufrechtzuerhalten, kaufe sie sehr vorausschauend und langfristig ein, oft für drei Monate. "Daher fahren Menschen von Rudolstadt in Thüringen zu mir nach Nürnberg, um ein Arzneimittel zu holen."

Für 2024 sind bisher 546 Engpässe bekannt, die aktuell bestehen oder im Laufe des Jahres erwartet werden.

Grafik: Gemeldete Lieferengpässe pro Jahr

Fehlende Antibiotika, Schmerzmittel und Krebsmedikamente

Ob Krebsmedikamente oder Fiebersäfte für Kinder – die Lieferengpässe betreffen diverse Arzneimittel. Am häufigsten waren 2023 Antibiotika wie beispielsweise Cefaclor von den Engpässen betroffen. "Wir hatten 2023 vor allem Probleme bei antibiotischen Säften", sagt Dilek Önaldi-Gildein, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin in München. "Penicillin war und ist als Saft für Kinder nicht lieferbar." Das sei vor allem vor Weihnachten spürbar gewesen. Während der Streptokokken-Welle musste Önaldi-Gildein häufiger auf breiter wirksame Antibiotika umsteigen, die nicht so gezielt wirken. 2022 sei die Lage für sie aber dramatischer gewesen. "Da haben wir auch keine Fiebersäfte für Kinder bekommen."

Aber auch Opioide, also starke Schmerzmittel, mit dem Wirkstoff Morphinsulfat oder Sprays mit dem Wirkstoff Salbutamolsulfat, die bei Asthmaanfällen eingesetzt werden, standen 2023 auf der Liste. Auch Mittel, die im Krankenhaus zur Krebstherapie eingesetzt werden, waren zeitweise nicht lieferbar. "Es sind aber auch die Insuline betroffen", ergänzt Apothekerin Margit Schlenk. "Typ-1-Diabetiker können ohne Insulin nicht leben. Es wird oft dramatisch."

Für das Medikament unter dem Handelsnamen "Irenat in Tropfenform" gibt es seit September 2023 eine Lieferengpassmeldung. Sie wird voraussichtlich bis 2026 andauern. Das Medikament blockiert die Jodaufnahme und wird unter anderem bei Schilddrüsen- und Herzkatheteruntersuchungen eingesetzt.

Grafik: Welche Wirkstoff-Kategorien sind am häufigsten von Engpässen betroffen?

Patienten spüren Arzneimittel-Engpass nicht immer direkt

"Wir bemühen uns immer, einen Ersatz zu finden, andere Stärken, andere Mengen – oder versuchen durch Eigenherstellung Engpässe zu kompensieren", erklärt die Apothekeninhaberin aus Nürnberg. Die Situation sei prekär, die Patientinnen und Patienten würden das aber gar nicht so merken. "Wir Apotheker versuchen, das Problem zu umschiffen, Lösungen zu finden, zu jonglieren. Aber die Arbeit ist dadurch wirklich unglaublich erschwert."

Die Daten des Bundesinstituts zeigen ein deutliches Bild: Im Jahr 2020 lag die Zahl der Engpässe, die vor allem Kliniken betreffen, deutlich höher als die Lieferschwierigkeiten, die nicht als "krankenhausrelevant" eingestuft wurden. Seit 2022 hat sich die Lage gedreht. Die Zahl der nicht krankenhausrelevanten Engpässe, die vor allem Vor-Ort-Apotheken betreffen, lag 2023 bei 945, die der krankenhausrelevanten Engpässe bei 481. Eine Sprecherin des Universitätsklinikum rechts der Isar in München bestätigt auf BR-Anfrage: Die Versorgung von Patientinnen und Patienten sei jederzeit sichergestellt.

Grafik: Gemeldete Lieferengpässe nach ihrer Relevanz für Krankenhäuser

"Die Ursachen von Lieferengpässen bei Arzneimitteln sind vielfältig", schreibt das Bundesministerium für Gesundheit auf Anfrage. Neben der Globalisierung und Konzentration auf wenige Herstellungsstätten für Arzneimittel und Wirkstoffe seien beispielsweise auch Qualitätsmängel bei der Herstellung oder Produktions- und Lieferverzögerungen für Rohstoffe Gründe für Lieferengpässe.

Hinzu komme ein signifikant verstärktes Infektionsaufkommen. Im vergangenen Herbst und Winter gab es nach Angaben des Ministeriums einen erhöhten Bedarf an Antibiotika und ibuprofen- oder paracetamolhaltigen Arzneimitteln aufgrund von Atemwegserkrankungen oder Mittelohrentzündungen. "Die Kinder in meiner Praxis hatten letztes Jahr deutlich mehr bakterielle Infektionen wie Lungenentzündungen oder Mittelohrentzündungen, die eine Antibiotikatherapie benötigten, als dieses Jahr", bestätigt die Kinderärztin Önaldi-Gildein. "Wir hatten zudem eine viel heftigere RS-Virus-Welle." Ein Problem sei auch: Selbst, wenn die Lieferfähigkeit bei Tabletten gegeben war, fehlte es an Säften für Kinder.

"Erhöhte Nachfrage" häufigster Grund für Meldung

Das spiegelt sich auch in den Daten wider: 2020 waren häufig unzureichende Produktionskapazitäten die Ursache. 2023 war die erhöhte Nachfrage häufiger der Grund: Mehr als jede dritte Meldung wird darauf zurückgeführt. Im momentanen Winter sei die Infektionswelle allerdings schwächer, sagt Schlenk. Als Ursache für die aktuellen Probleme sieht sie strukturelle Mängel: "Es lag nicht allein an dem hohen Bedarf, sondern auch am Abriss von Lieferketten."

Auch der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie sieht eher ein strukturelles Problem: Die von den Krankenkassen erstatteten Preise für Arzneimittel der Grundversorgung seien regelmäßig zu niedrig, sodass pharmazeutische Unternehmen in Deutschland und Europa oftmals nicht mehr wirtschaftlich produzieren können.

Grafik: Hauptgründe für gemeldete Lieferengpässe

Bayern vergleichsweise gut aufgestellt

Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie sagt aber auch: Der Freistaat sei im Vergleich zum Bund besser aufgestellt: "Die Umsetzung der Vorschläge zum Engpassmanagement allein in Bayern sind zwar ein effektiver Ansatz, können allerdings nicht das zugrundeliegende strukturelle Problem lösen." Dies sei nur auf Bundesebene möglich. Darum werbe die bayerische Staatsregierung zusammen mit den am Gesundheitssystem beteiligten Akteuren um die Fortführung des im Freistaat "so erfolgreichen Dialogs" mit allen ins Gesundheitssystem eingebunden Partnern auch auf Bundesebene.

BfArM bewertet Situation als stabil

Nach Einschätzung des Beirats beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und der neu eingerichteten High Level AG (HLAG) im Bundesministerium für Gesundheit sei die Versorgungslage aktuell stabil. Die Lagerhaltung und Liefersituation seien besser als im vergangenen Jahr.

Das betreffe auch die Versorgung mit Antibiotika. Es seien mehr Vorräte angelegt, als verkauft wurden. Dennoch müsse die Infektionslage in den kommenden Wochen abgewartet werden, Engpässe bei einzelnen Wirkstoffen seien nicht auszuschließen.

Durchsuchen Sie die Tabelle: Diese Medikamente sind 2024 bisher nicht durchgängig lieferbar

Interaktive Grafik: Welche Medikamente 2024 betroffen sind

Dieser Artikel ist erstmals am 26.01.2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel aktualisiert und erneut publiziert.

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