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Offizieller Jugendschutz-Filter blockiert Aufklärungsseiten

Deutschlands einziges offizielles Jugendschutz-Programm für Internetseiten soll bedenkliche Webseiten blockieren. Eine BR-Recherche zeigt: Der Filter blockiert auch Aufklärungsangebote, sogar von öffentlichen Stellen.

Über dieses Thema berichtet: Notizbuch am .

Auf der Webseite meincomingout.de erzählen Menschen ihre persönlichen Geschichten in Texten, Bildern und kurzen Videos. Es geht um trans Personen, Schwule und Lesben, Zukunftssorgen und den Mut zum Outing. Neben den persönlichen Geschichten gibt es auch Links zu Beratungsangeboten. Das Jugendschutzprogramm JusProg hat die Aufklärungsplattform, die von der Deutschen Aidshilfe entwickelt wurde, bis vor Kurzem als "ab 18 Jahren" bewertet.

Jugendschutzprogramm blockiert anscheinend Aufklärungsseiten

Das heißt: Wenn man die Webseite mit aktivierten Jugendschutzfilter aufgerufen hat, erschien eine Informationsseite: "Diese Webseite kannst du leider nicht ansehen. Das empfohlene Mindestalter für diese Seite ist 18 Jahre." JusProg ist das einzige Jugendschutzprogramm für Webseiten, das in Deutschland nach gesetzlichen Vorgaben anerkannt ist.

Manuel Hofmann, der die Webseite mitentwickelt hat, wusste nichts von der Alterseinstufung: "Ich frage mich schon, was es auslöst, wenn ein queerer Jugendlicher auf die Seite meincomingout.de geht, und dann heißt es: Das ist ein Inhalt, den du nicht sehen darfst. Das ist grotesk", sagt Hofmann.

Aufklärungsseiten gelten als ungeeignet

Die Seite der Aidshilfe ist keine Ausnahme. Recherchen von BR Data und netzpolitik.org zeigen, dass JusProg Ende 2023 – allein in einer Stichprobe – mindestens 70 Fälle öffentlich finanzierter oder gemeinnütziger Informationsangebote für ungeeignet für Kinder und Jugendliche gehalten hat, selbst wenn sie sich gezielt an junge Menschen richten. Die Journalistinnen und Journalisten erstellten diese Stichprobe aus mehr als 150 Suchanfragen bei Google zu sensiblen Themen, wie Minderjährige sie stellen könnten. Zum Beispiel: "Kondom benutzen", "Bulimie Hilfe" oder "Coming-out Tipps".

Der BR und netzpolitik.org haben einige der betroffenen Webseitenbetreiber angefragt: Keiner wusste, dass er von dem Jugendschutzprogramm blockiert wird. So wie Jürgen Lohmayer, der Weltanschauungsbeauftragte der Diözese Würzburg. Er hat an der "spirituellen Apotheke" mitgearbeitet, einer Seite, auf der die evangelischen Kirchen und katholischen Bistümer gemeinsam Informationen zu unterschiedlichsten Religionen und Glaubensrichtungen zusammentragen. Auch dieses Angebot bewertete JusProg als "ab 18 Jahren". "Ich bin perplex. Das hätte ich mir so nie vorstellen können", sagt Lohmayer.

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Zugriff blockiert: Das BayernWLAN sperrt alle Webseiten, die das Jugendschutzprogramm JusProg als "ab 18" einstuft.

Das Ziel: Rechtssichere Angebote im Internet

Das Jugendschutzprogramm JusProg können Eltern auf den Geräten ihrer Kinder oder im Heimnetzwerk installieren, um sie vor nicht altersgerechten Inhalten im Internet zu schützen. Damit werden etwa Webseiten mit Pornografie oder Gewalt nicht angezeigt. Das Programm wird vom gleichnamigen Verein JusProg e.V. entwickelt – einem Zusammenschluss von Kommunikationsanbietern wie Vodafone, ProSiebenSat.1 und Freenet, aber auch aus der Unterhaltungs- und Erotikbranche, um ihre Angebote rechtssicher zu betreiben.

JusProg senkte bei einer Reihe von Webseiten nach einer Anfrage von BR und netzpolitik.org die Alterseinschätzung, sodass sie für Jugendliche wieder erreichbar sind. Es räumte ein, dass es in einigen Fällen zu einem "Overblocking" komme, für ein bestimmtes Alter geeignete Seiten also fälschlicherweise blockiert würden. Technisch sei es eine besondere Herausforderung, insbesondere bei Themenfeldern wie Aufklärung und manchen Gesundheitsthemen, Webseiten automatisiert richtig zu altersklassifizieren, da diese notwendigerweise Worte und Wortkombinationen enthielten, wie sie auch auf problematischen Webseiten vorkommen, teilt der Vorsitzende Stefan Schellenberg auf Anfrage mit. Deshalb würden Webseiten auch händisch geprüft. Er verweist auf "Millionen richtig klassifizierter Webseiten", darunter Hunderte "aus sensiblen Themenbereichen".

Automatisches System auf Wortebene

Im Sinne der freiwilligen Selbstkontrolle sollen Anbieter laut JusProg-Webseite technisch auslesbare Alterskennzeichen als age-de.xml-Standard hinterlegen und so Auskunft darüber geben, ab welchem Alter die Inhalte geeignet sind. In der vom BR und netzpolitik.org untersuchten Stichprobe wurde das Verfahren jedoch kaum angewandt.

Deshalb sortiert JusProg Webseiten nach eigenen Angaben in Altersgruppen ein: "ab 0 Jahre", "ab 6 Jahre", "ab 12 Jahre", "ab 16 Jahre" und "ab 18 Jahre". Bei dieser Altersklassifizierung setze das Programm auf eine Kombination von automatischen Verfahren und menschlichen Einschätzungen. Auf Anfrage von BR und netzpolitik.org erklärt JusProg, man setze Algorithmen ein, die Webseiten automatisiert auf Basis von Worten bewerten.

Menschen kontrollieren laut Aussage von JusProg die Alterseinschätzung vor allem bei sehr häufig besuchten Webseiten oder wenn Beschwerden über falsche Einschätzungen bei dem Verein eingehen. Laut JusProg sei mittlerweile eine siebenstellige Zahl von Webseiten händisch geprüft worden.

Filter auch im BayernWLAN

Auch Erwachsenen kann es passieren, dass sie Webseiten nicht erreichen können, weil JusProg sie mit einem Mindestalter von 18 Jahren versieht. Etwa, wenn sie sich in einen der mehr als 44.000 Hotspots des BayernWLANs einwählen, dem vom Freistaat Bayern finanzierten, öffentlichen WLAN-Netz. In Büchereien, auf Marktplätzen oder an Bushaltestellen gibt es laut bayerischem Finanzministerium monatlich bis zu 12,5 Millionen Nutzerinnen und Nutzer, die "anonym, frei und unbegrenzt, abgesichert durch einen Jugendschutzfilter" auf das Internet zugreifen, wie es auf der Webseite des zuständigen Landesamtes heißt.

Bayern betreibt das WLAN-Netz nicht selbst, sondern hat den Auftrag 2015 an Vodafone vergeben. Eine Anforderung war, dass das Jugendschutzprogramm, "von einer anerkannten Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle als geeignet beurteilt" worden ist. Damit kam nur JusProg infrage: Es ist nach wie vor die einzige Anwendung für Internetseiten, der diese Eignung vom Verein der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) bescheinigt wurde.

Webseiten der bayerischen Regierung – im BayernWLAN nicht erreichbar

Das bayerische Finanzministerium, das für den Betrieb des BayernWLAN verantwortlich ist, teilte auf Anfrage von BR und netzpolitik.org mit: "Das Ministerium nimmt keinen Einfluss auf die Arbeitsweise des durch Vodafone eingesetzten Jugendschutzfilters." Dabei sind auch mindestens zwei Webseiten des Freistaats betroffen: sti-auf-tour.de und mitsicherheitbesser.de klären über sexuell übertragbare Krankheiten auf. Das bayerische Gesundheitsministerium ist für die Seiten verantwortlich.

Für Vodafone, den Betreiber des BayernWLAN, ist ein Jugendschutzfilter alternativlos: Sonst "wären Kinder und Jugendliche, die das WLAN nutzen, auch extrem entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten im Internet ausgesetzt", schreibt die Jugendschutzbeauftragte des Unternehmens, Melanie Endemann, die auch Mitglied im Vorstand von JusProg ist, auf Anfrage. Die Verantwortung für die Filterliste obliege dabei allein dem Verein JusProg, Vodafone selbst klassifiziere keine Seiten.

Jugendschutzfilter soll verbessert werden

Nina Börner, Referentin für Jugendmedienschutz bei der Aktion Jugendschutz Bayern, sagt zur Filtersoftware von JusProg: Solche Programme können unterstützen, vor allem bei jüngeren Kindern, denn "es ist nicht möglich, 24/7 daneben zu sitzen, wenn mein Kind digitale Medien nutzt". Aber: Filter seien nicht alles. "Das Wichtigste ist, dass Jugendliche und Kinder früh befähigt werden, das Internet zu nutzen." Kinder müssten lernen, wie sie sich dort verhalten und an wen sie sich wenden können.

Das automatisierte System zur Altersbewertung von Webseiten will JusProg jetzt verbessern – und schreibt auf Anfrage von BR und netzpolitik.org: "Wir haben Ihr Testergebnis zum Anlass genommen, einige Verbesserungspotentiale bei uns zu identifizieren, die wir jetzt angehen werden." Man berücksichtige nun auch einige der neuesten LGBTIAQ+ Abkürzungen.

Diese Recherche entstand in Zusammenarbeit mit Sebastian Meineck von netzpolitik.org. Die Recherche wurde ermöglicht durch technische Vorarbeit der IT-Sicherheitsexpertin Lilith Wittmann.

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