Der Weiße Hai mit einer Spezialkamera von unten aufgenommen. Aus der Sendung "Welt der Tiere"
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Der Weiße Hai, eine Ausgeburt des Schreckens? Stephan Wunsch hat "Verrufenen Tieren" ein Buch gewidmet.

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"Verrufene Tiere": Der Mensch und die Angst vor dem Tier

Was haben Hai, Hyäne, Spinne, Schlange, Wespe und Krake gemein? Genau! Nicht den besten Ruf. Zum Knuddeln sind andere Tiere. Die Genannten lösen eher Ängste aus. Der Autor Stephan Wunsch hat ihnen ein Buch gewidmet, ein Panoptikum unserer Fantasie.

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Der Mensch ist des Menschen Hai. Die Literatur hat das immer gewusst. Bert Brecht genauso wie Jack London. In seinem Roman "Der Seewolf" lässt der sadistische Kapitän den Schiffskoch zur Bestrafung für dessen schlechtes Essen an einem Tau durch die See ziehen, bis ihm ein Hai das Bein abreißt, wovon sich der Schiffskoch inspirieren lässt und seinen Kapitän, kaum zurück an Deck gekrochen, selbst ins Bein beißt. "Hier hebt es an das Lied von der See als Refugium toxischen Männlichkeit."

Verrufene Tiere, unsere Spiegel

Keine Bestie ist so brutal, dass sie uns nicht noch als Spiegel dienen könnte. Das ist die Überzeugung, mit der Stephan Wunsch in seinem Bestiarium startet. Das Tier, und vor allem das monströse, ist eine Projektionsfläche. In ihm entdecken wir das, was wir vor uns selbst verstecken: das Monster, das wir in uns ahnen. Denn, so Stephan Wunsch: "Lieber fürchten wir uns vor Gespenstern als vor dem Abgrund in uns."

Gespenstergeschichten gibt es genug rund um Hai, Hyäne und Co. Wobei eine der bekanntesten sogar einen wahren Kern besitzt. Spielbergs "Weißer Hai" basiert auf mehreren Haiattacken, die sich im Jahr 1916 an der Küste New Jerseys ereigneten. Gerade erst hat sich der Tourismus als Industrie erfunden, die Massen verlustierten sich an den Stränden, da lässt ein mordender Hai die Blase platzen. Ein Toter, dann ein zweiter und so weiter. Daraufhin Angst, Panik und das schlimmste: Der Umsatz bricht ein.

Der Hai, das Raubtier

"Ein einziger Hai konnte die Verletzlichkeit des amerikanischen Traums offenlegen.", kommentiert Stephan Wunsch. Und zeigt: Wer hier mit Zoological Correctness daherkommt, hat schon verloren. Denn in dieser Geschichte ist der Hai kein Tier, sondern der Raubfisch-gewordene, der brutale Zufall, der mit seinen rasiermesserscharfen Zähnen, das amerikanische Glücksversprechen zerfetzt. Und nicht nur das amerikanische, sondern eigentlich das jeder Zivilisation, deren Firniss ja bekanntlich dünn ist… Wem das jetzt schon zu viel Überhöhung ist, dem serviert Stephan Wunsch gerne auch noch mehr davon.

"Der Hai ist das Harte, Männliche, Konkrete. Das Eindeutige. Der reine Zahn, das brutalstmögliche Gebiss, übertrieben scheußlich wie für einen Splatterfilm kreiert. Die pure Faktizität ohne den geringsten Deutungsspielraum", so Wunsch. Aller menschlichen Verfeinerung, Überhöhung, Sublimation des Körperlichen sei dies Tier ein gleichgültiger Hohn, die schiere Möglichkeit des Hais ist das Dementi aller Poesie; und nur ein Narr könnte davor nicht die allergrößte Angst haben."

Die "finsteren Absichten der Spinne"

Das Schönste an diesem Buch, sind nicht die wilden Assoziationen, die Stephan Wunsch seinen Bestien aufhalst; und auch nicht die unterhaltsamen Literatur- und Kulturgeschichten, mit denen er sie wieder einfängt, nein, das Schönste an diesem Bestiarium ist sein Ton; dieser Wechsel von Pathos und Lakonie, dieses bedeutungsschwangere Knurren, das streckenweise so klingt, als hätte sich Käpt’n Ahab am FAZ-Feuilleton der Sechziger verschluckt, und das trotz allem präziseste phänomenologische Beobachtung ausspuckt. Etwa wenn es um Spinnen geht: "Für die Aufladung der Spinne mit finsteren Absichten könnte ihr Gestus eine Rolle spielen. Die Spinne schlendert nicht." Oder um Wespen: "Wespen wissen genau, was sie sich erlauben können: nämlich alles."

Das ist so wahr, das man Stephan Wunsch auch die ein oder andere raunende Banalität verzeiht ("Spinne ist der tiefe Schrecken, dass im Sein keine Gewissheit ist und wir jederzeit in die Tiefe stürzen können. Sie ist die Angst vor der Angst.") . Dieses Buch ist von einer solchen Lust an der Bedeutung beseelt, dass man ihm viele Leserinnen und Leser wünscht. Und einen Vorleser: Den Regisseur Werner Herzog. Keine Stimme würde diese Sätze schöner in den Äther heben.

"Verrufene Tiere" ist in der Reihe "Naturkunden" bei Matthes und Seitz erschienen.

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