Pamela Lee Anderson  als C.J. Parker in der US-Fernsehserie "Baywatch"
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90er Jahre Popkultur: Dafür steht Pamela Lee Anderson im feuerroten Rettungsschwimmerinnen-Badeanzug aus "Baywatch"

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"No Limit": Jens Balzers Geschichte der Neunziger

Die Neunziger: Dauerparty, Siegeszug der Technomusik, eine überwältigende Pamela Anderson in "Baywatch" und die Anfänge der digitalen Revolution. Aber auch ein "Jahrzehnt der Freiheit", das zum Glück vorbei ist.

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Zwischen Mauerfall und elftem September spannt sich ein Jahrzehnt der Transgression. So nennen Soziologen zwischenmenschliches Verhalten, das Verstöße gegen gesellschaftliche Regeln in Kauf nimmt. "Alle wollen Außenseiter sein, abgesehen von einigen Außenseitern", heißt denn auch ein Kapitel in "No Limit": "Der alte Wunsch der Gegen- und Alternativkulturen, der sich Ende der 60er in der Hippiekultur im Summer of Love zum ersten Mal breit artikuliert: wir wollen Individuen sein, wir wollen Freaks sein, dieser Frank Zappa-Begriff des Freaks, der wird in den 90ern gesellschaftlicher Mainstream."

Berlin nach der Wende: Techno tritt Siegeszug an

Nach der Wende treffen in den Kellern heruntergekommener Häuser im Osten Berlins junge Menschen aus allen Teilen Deutschlands aufeinander. Sie tanzen zu einer Musik, die von außen als kalt, synthetisch und monoton wahrgenommen wird. Die Leere dieser Musik ist ihre Stärke: Techno tritt einen Siegeszug ohnegleichen an in der Popkultur, aber schon bald regt sich leider die hässliche Fratze des Rechtsextremismus und zwar nicht nur in den neuen Bundesländern. Nation, Rassismus und Gewalt bilden die Grundpfeiler einer rechten Jugendkultur, die auf Ausgrenzung setzt. Es kommt zu Pogromen gegen Migranten in Hoyerswerda und Rostock.

Kompetent beschreibt Jens Balzer in seiner Dekadenzanalyse die Freiräume, die temporären autonomen Zonen im Techno-Berlin, er skizziert aber auch, wie konservative Politiker und bürgerliche Presse das Erstarken des rechten Nationalismus verharmlosen – auch das ein für die Neunziger Jahre typischer Prozess.

Die Popkultur der Dekade

"Die Idee, Kultur in Jahrzehnt-Zusammenhängen zu beleuchten ist", so Balzer, "eine alte Popkultur- und eine alte Poptheorie-Idee. Also man sprach immer vom Geist der Sixties, auch in Modezusammenhängen, man versucht das immer in Dekaden einzuordnen."

In der Fernsehserie "Baywatch" läuft Darstellerin Pamela Anderson im feuerroten, figurbetonten Badeanzug über den Strand. Das Starlet ist eine der ersten, die Erfolge feiert mit oder wegen ihrer Brustvergrößerungen, sogenannten Body Modifications. Sie steht am Anfang einer Entwicklung, in der der menschliche Körper zur formbaren Materie wird – zum bloßen Objekt, das mittels Operationen nach Belieben gestaltet werden kann.

Erste Anzeichen der digitalen Revolution

Zudem kommt es während der Neunziger Jahre zu ersten Anzeichen der digitalen Revolution. Ein neues, elektronisches Werkzeug, nämlich der Computer inform des unhandlichen, potthässlichen Personal Computers hält Einzug in die Haushalte. Telefone, bisher mit Kabel an der Wand fixiert, werden allmählich mobil, Anrufbeantworter zum Verkaufsschlager. Aufnahmen, die hiermit entstehen, halten umgehend Einzug in die Popmusik.

Haben wir das wirklich alles er- und überlebt? Das dürfte die Reaktion von Lesern sein, die die Neunziger Jahre überstanden haben, denn die Neuerungen der Dekade scheinen vor gefühlt 100 Jahren passiert zu sein. Für Menschen, die damals noch nicht gelebt haben, können Balzers Beschreibungen aufschlussreich sein. Denn der Berliner Pop-Journalist macht Entwicklungen nachvollziehbar: Tätowierungen und Piercings etwa waren zu Beginn der Achtziger Jahre noch Verfahren kleiner Subkulturen wie der Avantgarde-Band Psychic TV, um sich individuell zu unterscheiden. In 90er Jahren sickerten diese Strategien in den Mainstream ein und wurden so populär, dass sie alsbald von jedermann und jederfrau umgesetzt wurden.

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Jens Balzer

Alltags- und Sittengeschichte

Balzer beschreibt diese Prozesse nüchtern und genau, vorschnelle Bewertungen meidet er bewusst: "Ich habe versucht, mir aus allen wissenschaftlichen Ansätzen herauszunehmen, was mir am praktikabelsten erschien. Ich finde es eben interessant an der Alltags- und Sittengeschichte, die sich eben nicht an den Taten großer Männer orientiert, sondern an Gewohnheiten, zu schauen wie sich da Veränderungen spiegeln".

Trashige Popsongs, Kult-Fernsehserien wie "Die Simpsons", die stoned-washed-Jeans-Mode, das postmoderne Kinomeisterwerk Pulp Fiction und den Roman Faserland, ... interpretiert Balzer. Und – das ist seine Stärke – er beleuchtet die Veränderungen der Lebensbedingungen durch den technischen Fortschritt, den Stand der Zivilisation. "No Limit" ist Alltags- und Mentalitätshistorie, Geschichtsschreibung auf der Höhe der Zeit. Das Thema der Identität übernehme er, wie Balzer sagt, aus den Cultural Studies.

Das Jahrzehnt der hemmungslosen Selbstverwirklichung

Die Neunziger waren, so Balzer, ein Jahrzehnt der Freiheit, der hemmungslosen Selbst-Verwirklichung. Auf Ökologie und gesteigertes Umweltbewusstsein wie in den Achtziger Jahren wurde kaum Wert gelegt, Verschwendung und Luxus waren angesagt – ein Fehler, wie wir heute wissen. Im Nachhinein überhöhen viele, die damals jung waren, das Jahrzehnt als Dauer-Party. Die Love Parade, die alljährlich durch Berlin zog, steht symptomatisch für diese Sichtweise – Hedonismus für alle also.

Doch das ist nur eine Seite der Neunziger Jahre, es gibt aber auch eine andere. Im zerfallenden Jugoslawien entbrennt zum ersten Mal nach 1945 wieder ein Krieg in Europa. Teile der muslimischen Welt konstituieren sich als unvereinbar mit westlichem Liberalismus. 1989 etwa wird die Fatwa, die Todesdrohung gegen den Schriftsteller Salman Rushdie ausgesprochen wegen des Romans "Die satanischen Verse".

Nach der Lektüre der höchst lesenswerten Kulturgeschichte ist klar: So wie in den Neunzigern konnte es nicht bleiben – Gottseidank sind wir dem Größenwahn dieser Zeit entronnen.

Jens Balzer: "No Limit – Die Neunziger – Jahrzehnt der Freiheit" ist bei Rowohlt erschienen.

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