Wenn ausgerechnet eine Schriftstellerin, eine Meisterin der Fiktion also, zu mehr Wahrheit aufruft – dann kann es nur schlecht stehen um eine Gesellschaft. Genau das aber tut Doris Dörrie in den kommenden Tagen. Denn jeder Einzelne, so ihre These, betreibt momentan, was eigentlich der Literatur zufällt: Geschichten erzählen, fingieren statt dokumentieren. Im Leben von uns allen geht es immer mehr darum, sich gut darzustellen, sich erzählerisch neu zu erfinden. Ob all das auch mit der Realität übereinstimmt – Nebensache.
Kein Entkommen aus der Fiktion
Dadurch, dass wir immer wieder andere Filter vor die Realität schieben, schwanke der Boden des Verlässlichen immer mehr. Man könne nicht mehr recht wissen, wem kann ich trauen. "Und das ist natürlich fatal, wenn man die Fiktion verlassen will, aber es gibt gar keinen Ausgang mehr", sagt Doris Dörrie. Fake News sind nur eine Facette des Phänomens. Auch die Wirtschaft hat mittlerweile die Macht einer guten Geschichte erkannt. So berichtet Dörrie von dem Versuch eines Unternehmens, sie, eine Autorin, für Seminare über das Storytelling zu gewinnen. Aber wo geht es dann zur Wirklichkeit in dem Nebel der Narrative? Wird ausgerechnet die Literatur zum Ort für das Wahre?
Das Dokumentarische ist voll im Trend
Wenn plötzlich alles Fiktion ist, dann erwache die Sehnsucht nach dem Echten und Dokumentarischen. Und da kommen wieder die Profis ins Spiel, Schriftsteller, die uns einen Weg durch die Realität bahnen. "Und das am Besten am eigenen Körper, denn diesem Körper des Schriftstellers glauben wir dann noch am Ehesten", sagt Doris Dörrie. Das führe dazu, dass jemand wie Knausgård in sechs Bänden über seinen Alltag schreibt, und wir das fast als Erholung wahrnehmen, weil wir von der Fiktion so erschöpft sind.
Es gibt einen Trend zu autobiografischer Literatur, auch zum Dokumentarischen im Film. Doris Dörrie geht diesen Trends nach und stellt nun in ihrem Programm Schriftsteller vor, die die unterschiedlichen Aspekte des Themas ausloten. Einige Autoren spüren in ihren Texten der Bedeutung der eigenen Herkunft nach – in einer Zeit, in der man sich scheinbar nach Belieben neu erfinden kann. Andere machen das eigene „Ich“ zum Thema und verhandeln damit immer auch die Frage, wie und was sich eigentlich erzählen lässt – vom eigenen Leben. Und das gilt, wie Dörrie feststellt, vor allem für das männliche Geschlecht. Anders als Frauen schreiben Männer gern lang und ausführlich über sich selber und ihren Alltag.
"Der männliche Alltag ist große Kunst, der weibliche ist banal. Und um das ein bisschen ins Gleichgewicht zu bringen, habe ich sehr viele Frauen eingeladen, die über sich und ihr Leben berichten. Also, gleich als Auftakt: drei sehr interessante Schriftstellerinnen, die sehr autobiografisch über ihren Lebensentwurf berichten." Doris Dörrie