Kaum ein Sachbuch ist in diesem Jahr so intensiv besprochen und so überschwänglich gelobt worden wie "Die Gesellschaft des Zorns“, geschrieben von der Soziologin Cornelia Koppetsch. Mit der Diskussion dieses Buches sollte der Bayerische Buchpreis eigentlich beginnen. Stattdessen erklärte Jury-Vorsitzende Sandra Kegel, die das Buch selbst nominiert hatte, warum sie dieses nicht besprechen, sondern aus dem Spiel nehmen wolle.
"Vor wenigen Tagen habe ich aus einer vertrauenswürdigen Quelle erfahren, dass es Vorwürfe gibt hinsichtlich der korrekten Zitierweise in diesem Buch. Ich habe den Sachverhalt recherchiert und bislang herausgefunden in der Kürze der Zeit: Es gibt ein derzeit schwebendes Verfahren über den Verdacht, dass gewisse Formulierungen nicht dem wissenschaftlichen Standard entsprechen." Sandra Kegel, Jury-Vorsitzende
Schwere Vorwürfe gegen Koppetsch
Der erhobene Vorwurf wiegt schwer. Denn es steht nicht nur die Frage im Raum, ob Koppetsch unsauber gearbeitet und Quellen nicht akkurat ausgewiesen haben könnte. Es geht auch um die Frage, ob ihr Buch im Ganzen den Thesen eines anderen Autors zu nahe komme und ihm damit die Eigenständigkeit fehle, die Grundlage einer wissenschaftlichen Publikation also. Knut Cordsen, ebenfalls Teil der Jury, nannte einige Details:
"Man stutzt, wenn sie den Begriff 'Neogemeinschaften' einführt – so als hätte sie ihn erfunden. Dieser Begriff ist nicht ihrer, er stammt vom Bayerischen Buchpreisträger 2017, Andreas Reckwitz, so geprägt in seinem damals hier ausgezeichneten Buch 'Die Gesellschaft der Singularitäten'. Kurios wird es, wenn man feststellt, dass sie aus einem Aufsatz von Andreas Reckwitz – veröffentlicht im 'Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/18', dieser Aufsatz heißt 'Zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus' – nicht nur einzelne Termini, sondern zeilenlang ganze Satzperioden übernimmt ohne Angabe der Quelle." Knut Cordsen, Jury-Mitglied
Koppetsch räumt Fehler ein
In einer Nachricht an die Veranstalter hatte Cornelia Koppetsch eingeräumt, Fehler gemacht zu haben – an einigen Stellen wären, so die Autorin, Quellenangaben angebracht gewesen. Den umfassenden Vorwurf, die zu beanstandende Nähe ihres Buches zu einem fremden Werk, wies sie jedoch zurück.
Über einen solchen Plagiatsvorwurf darf eine Jury aus Literaturkritikern nicht urteilen – das betonten die Juroren und bemühten sich im Anschluss, zum Ausgangspunkt des Abends zurückzufinden – der Freude an Literatur und am Streit über sie. Geradezu in Rage redete sich Jurorin Svenja Flaßpöhler, als Steffen Kopetzkys Roman Propaganda zur Diskussion stand. Und was sonst wie ein hartes Urteil, eine Demütigung klingen könnte, kam an diesem Abend einer Erleichterung gleich – immerhin ging es nur noch um Literatur.
"Anstatt diese Figur, die mich durch den Roman zieht, mit Leben zu füllen, wird diese Schlacht im Hürtgenwald in einer Ausführlichkeit geschildert, dass ich dachte: Da schlaf ich jetzt wirklich gleich ein. Dann wird das auch so gesagt: Ja, was ist denn mit dem Indianer passiert? Das ist so schrecklich, das kann ich nicht sagen. Ja, er wurde zerhackt. Wird dann halt doch noch irgendwie gesagt. Er wurde zerhackt. Und, auch um das zu erwähnen: die Frauen. Es gibt keine einzige Frau, die zu Wort kommt, es gibt keine Frau, die zu Wort kommt." Svenja Flaßpöhler, Jurorin Bayerische Buchpreis
Bayerischer Buchpreis geht an David Wagner
Kopetzky, das ahnte man hier bereits, würde nicht ausgezeichnet werden, sondern ein stiller, sehr intimer Text: "Der vergessliche Riese" von David Wagner. Wagner lotet in diesem Buch aus, wie Rollenwechsel in der Familie gelingen, wie aus einem Kind der Beschützer und aus dem einstigen Riesen ein dementer Greis wird. Vor allem aber lotet er aus, wie Dialoge, denen die Redundanz des Vergesslichen ihre Form geben, selbst nicht redundant klingen, sondern humorvoll musikalisch.
Preis für bestes Sachbuch geht an Jan-Werner Müller
Der Preis für das beste Sachbuch ging an Jan-Werner Müller und seinen Essay "Furcht und Freiheit". Und am Ende gelang Joachim Meyerhoff – dem Ehrenpreisträger dieses Jahres – ein kleines Kunststück: Er beendete die Veranstaltung, von der zuerst nicht anzunehmen war, dass sie noch beschwingt werden könnte, mit der heiteren Erinnerung an die Kraft und Verspieltheit der Literatur:
"Meine Lieblingsbücher waren Bücher der Reihe Hitchcock, die drei Fragezeichen. Ich war ein langsamer Leser und brauchte oft wochenlang für einen einzigen Band. Davon, dass ich Bücher verschlang, konnte wirklich keine Rede sein. Mein mittlerer Bruder nutzte diese Langsamkeit gnadenlos aus, er stahl mein Buch, las die letzte Seite und erpresste mich: Wenn du nicht sofort mein Zimmer aufräumst, sage ich dir, wer der Mörder ist. Wenn ich mich weigerte, rief er – wie bei einer Oscar-Verleihung: "Der Name des Mörders ist…“ und ich rannte dann sofort in sein Zimmer und räumte auf. Für mich war das eine ernstzunehmende Drohung – die Vorstellung, vier Wochen lang 50 Seiten umsonst gelesen zu haben, machte mich gefügig." Joachim Meyerhoff, Ehrenpreisträger des Bayerischen Buchpreis
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