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Autor Thorsten Nagelschmidt

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"Der Abfall der Herzen": Thorsten Nagelschmidt über seinen Roman

Wie fühlt es sich an, wenn man sich an früher erinnern will – und es nicht kann? Schrecklich, sagt Thorsten Nagelschmidt. Genau von diesem Gefühl ausgehend hat der Autor und Musiker einen Roman über eine Provinzjugend geschrieben. Von Niels Beintker

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

"Wenn ich der Wahrheit näherkommen will, muss ich sie erfinden." Dieser Satz findet sich eher beiläufig im neuen Roman des Schriftstellers, Musikers und Künstlers Thorsten Nagelschmidt. Aber eigentlich markiert er ein Zentrum seines Erzählens. In "Der Abfall der Herzen" erkundet Nagelschmidt – geboren 1976 im westfälischen Rheine – das eigene Leben. Er blickt zurück in das Jahr 1999 und fragt nach dem Verhältnis von Erinnerung und Wahrheit. Niels Beintker hat mit Thorsten Nagelschmidt über sein Buch und eine so ganz andere Zeit gesprochen.

Niels Beintker: Ihr Roman "Der Abfall der Herzen" verdankt sich einem Zufall: dem Gefühl, sich an eine bestimmte Begebenheit nicht mehr erinnern zu können, im Abstand von 16 Jahren. Inwiefern war das eine prägende Erfahrung?

Thorsten Nagelschmidt: Das ist schrecklich. Man möchte sich an bestimmte Dinge erinnern. Die liegen auch nicht in einer Cloud, zumindest damals nicht. Und wenn dann vermeintlich einschneidende Erlebnisse weg sind, dann macht man sich Gedanken. Und auch ein bisschen Sorgen.

Der Roman ist einerseits autobiografisch grundiert, andererseits lesen wir eben doch einen Roman: Der "Nagel" im Buch – der Spitzname Ihres Erzählers – teilt ganz viel mit Ihnen und ist doch ein anderer. Gleiches gilt für die vielen anderen Figuren. Was fasziniert Sie an der Dialektik von Erinnerung, Wahrheit, Fiktion?

Erst einmal ist das eine bittere Erkenntnis: Ich kann meine Autobiografie nur als Fiktion erzählen. Aber wenn man sich das in einem größeren Rahmen anguckt, dann ist es vielleicht das, was das menschliche Gedächtnis sowieso macht. Es lässt manche Sachen weg, es bauscht andere auf. Meine Theorie ist die, dass die Fiktion in dem Augenblick beginnt, in dem man etwas in Sprache verwandelt. In dem Moment, in dem man etwas aufschreibt, von etwas Erlebtem oder Gefühltem berichtet. Das potenziert sich über die Jahre. Und interessant ist, dass ein Schriftsteller das auch macht. Man hat Material und sortiert das aus. Was ist erzählenswert, was nicht? Wie versucht man, eine Art von Stringenz, eine Chronologie herzustellen?

Der Roman eröffnet einen konkreten Raum oder Ort: Er führt nach Rheine im Norden Westfalens – in eine Stadt, die von einer Figur im Roman als "Schweinekaff" bezeichnet wird und über die es andererseits heißt, über Rheine zu lästern, das ist wie auf einen am Boden Liegenden einzutreten. Sie erzählen von einer Jugend in dieser Stadt, vom Wunsch, anders zu sein als die Eltern und die Stinknormalen, die Stinos. Geht es letztlich um die Rekonstruktion eines Lebensgefühls, um die großen Fragen: Was will ich eigentlich machen in dieser Welt? Was für einen Sinn ergibt das für mich?

Mein Erzähler und meine Figuren sind angetrieben vom Gefühl, es anders machen zu wollen. Nicht nur anders als ihre Eltern, sondern auch anders als die Gleichaltrigen. Ich sehe sie nicht als typische Vertreter ihrer Generation. Sie wollen anders leben. Sie wollen auch auf eine andere Weise Beziehungen führen, auch wenn sie das so vielleicht gar nicht formulieren würden in diesem Zustand, in dem sie sind – mit Anfang 20. Ich wollte auch von der Naivität und dem Um-sich-schlagen, das zu diesem Alter gehört, erzählen. Ich wollte meine Figuren nicht weiser oder schlauer und reflektierter machen, als sie in dem Moment waren. Ganz ehrlich: Das nervt mich oft bei Romanen.

Ist es schwerer, sich aus dem Rückblick in eine solche Jugend hineinzuversetzen?

Ich fand das nicht so schwer. Was mir geholfen hat, ist mein Tagebuch. Seit den 90er-Jahren bin ich akribischer Tagebuchschreiber. Mit den Tagebüchern fängt eigentlich alles an. Akribisch ist vielleicht auch gar nicht das richtige Wort, eher manisch. Man könnte meinen, dass sich das widerspricht: das schlechte Gedächtnis und das manische Alles-aufschreiben-müssen. Aber zumindest in meinem Fall scheint es eine Korrelation zu geben. Beim Tagebuchschreiben geht es ja nicht immer nur darum, etwas festzuhalten. Es kann auch darum gehen, etwas loszuwerden – dass man die Festplatte freimacht, damit Platz für Neues ist. Das Tagebuch stellt man in einen Schrank und holt es dann vielleicht nach 16 Jahren wieder heraus und wundert sich.

Aus dem Rückblick erscheint das Jahr 1999 vielleicht doch weiter entfernt, als wir gemeinhin denken. Eine "tote Zeit" heißt es im Roman über die 90er-Jahre: der Kalte Krieg war vorbei, die Welt, die wir heute erleben – verbunden mit Schlagworten wie Digitalisierung und internationalem Terrorismus – war noch nicht greifbar. Was hat Sie am Jahr 1999 interessiert, abgesehen von der Geschichte eines Sommers mit einigen emotionalen Verwirrungen. Wofür steht 1999 aus Ihrer Sicht?

Das Jahr '99 markiert für mich den Vorabend zu den Veränderungen, die danach über uns hereinbrachen oder noch hereinbrechen. Diese Stichworte – 9/11 ist zum Beispiel ein ganz großes. Und das ist interessant: Der Terror vom 11. September 2001 gehört gefühlt viel mehr zum Jetzt als zu '99, obwohl damals nur zwei Jahre dazwischen lagen und es zum Jetzt mittlerweile schon 17 sind. Andere Dinge kommen dazu: die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge, die Agenda 2010, Hartz IV, Rauchverbote – all diese Sachen.

"Der Abfall der Herzen" von Thorsten Nagelschmidt ist bei S. Fischer erschienen.