Fahrkartenkontrolle in der Nürnberger U-Bahn
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Fahrkartenkontrolle in der Nürnberger U-Bahn

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Umstrittener Paragraf: Haft für Fahren ohne Fahrschein

Zehntausende Menschen werden jährlich verurteilt, weil sie mehrfach ohne Fahrschein Bus oder Bahn gefahren sind. Tausende, so eine Abfrage des BR-Politmagazins "Kontrovers", kommen deswegen in Haft. Die Ampel-Regierung prüft das Gesetz derzeit.

Eigentlich säße Peter noch in der JVA in Nürnberg. Gut acht Monate sollte er absitzen, weil er mehrmals ohne gültigen Fahrschein erwischt wurde. In Deutschland ist das eine Straftat, geregelt in Paragraf 265a: Wer die Beförderung durch ein Verkehrsmittel "erschleicht", kann mit bis zu einem Jahr Haft bestraft werden, heißt es darin. Eine Initiative kaufte den 42-Jährigen nach sechs Monaten gegen Zahlung einer Geldstrafe von 1.225 Euro frei.

So wie Peter ging es 2019, 2020 und 2021 tausenden Menschen in Deutschland, das zeigt nach Recherchen von NDR und dem BR-Politikmagazin "Kontrovers" eine Abfrage unter den Justizministerien der Länder. Die Menschen wurden entweder direkt zu einer Haftstrafe verurteilt – oder sie bekamen eine Geldstrafe, die sie nicht bezahlen konnten. Ersatzweise mussten sie deswegen ins Gefängnis.

Eine hohe Dunkelziffer

Nicht alle Bundesländer erheben die genaue Zahl der Menschen, die in Haft sitzen, gleichermaßen, deswegen bleibt eine Dunkelziffer. Die Verurteilungen aufgrund "Erschleichen von Leistungen" werden gleichmäßiger erfasst: 2019 wurden mehr als 46.000 Menschen verurteilt, im Corona-Jahr 2020, wo weniger Bahn gefahren wurde, waren es fast 40.000 Menschen.

Vor allem die regionalen Unterschiede sind groß. Rheinland-Pfalz und Thüringen stechen mit rund 300 Gefangenen aufgrund von §265a heraus, gefolgt von Sachsen. Der Paragraf umfasst zwar auch andere Taten, wie zum Beispiel das Umgehen eines automatischen Drehkreuzes im Schwimmbad, doch oftmals, so heißt es in einigen Antworten der Justizministerien, sitze der Großteil der Menschen in Haft, weil sie ohne gültiges Ticket fuhren.

Schwarzfahren – ein Armutsdelikt

Bei Peter gerät das Leben vor gut zehn Jahren nach einer Nierenerkrankung aus den Fugen: Mehrfach in der Woche muss er zur Dialyse, er findet keinen Job, rutscht in eine Depression, ist über die Jahre immer wieder obdachlos. Um zur Dialyse oder in die Notunterkünfte zu kommen, fährt er in München oft mit der S-Bahn, oftmals ohne Ticket, das er sich nicht leisten kann. 2018 wird Peter zehnmal erwischt, jedes Mal auf einer Kurzstrecke. Der Richter verurteilt ihn zu insgesamt 270 Euro Geldstrafe, die er ebenfalls nicht bezahlen kann. Er kommt in Haft.

Der Fall von Peter sei typisch, sagen Kriminologen. Fahren ohne gültigen Fahrschein gilt als Armutsdelikt. Grundsätzlich haben zwar alle Verurteilten die Möglichkeit, die Geldstrafe abzuarbeiten, wenn sie sie nicht bezahlen können. Dafür haben die Länder sogenannte "Haftvermeidungsprogramme" geschaffen, die dabei helfen sollen, dass Menschen bei Bagatellstrafen nicht ins Gefängnis müssen.

Doch oftmals, so führt der Kriminologische Dienst aus Nordrhein-Westfalen in einer Analyse aus, seien gerade die Menschen, die aufgrund von Schwarzfahren verurteilt würden, bei Haftantritt schlicht "verarmt, krank, sozial ausgeschlossen und im strafrechtlichen Sinn nicht gefährlich" – viele von ihnen also auch nicht ohne Weiteres in der Lage, zu arbeiten.

"Ich war einfach überfordert"

Hinzu kommt, dass auch nur die Menschen in Arbeit vermittelt werden können, die sich innerhalb eines gewissen Zeitraums bei den Vermittlungsstellen melden. Viele würden aber ihre Post gar nicht lesen oder die Behördensprache nicht verstehen, meint Hilde Kugler, die Geschäftsführerin des Vereins Treffpunkt e.V.

Die Organisation vermittelt Verurteilte in gemeinnützige Jobs, damit sie die Geldstrafe nicht als Haftstrafe absitzen müssen. 898 Hafttage konnte der Verein im Jahr 2021 so verhindern. Wer sich allerdings nicht bei der Stelle meldet, fällt durchs Raster. So erzählt es auch Peter: "Ich war einfach überfordert", meint er. Rückblickend weiß auch er, dass er Hilfe hätte finden können.

Video: Wegen Schwarzfahren hinter Gitter?

Wegen Schwarzfahren hinter Gitter?
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Fahrkartenkontrolleur im Gespräch mit einem Fahrgast

Paragraf auf dem Prüfstand

Schon zu Beginn der Legislaturperiode hat die Ampelkoalition die Überarbeitung des umstrittenen Paragrafen angekündigt. Aus dem Bundesjustizministerium heißt es, der §265a werde derzeit geprüft. Zur Debatte steht etwa, ob das Fahren ohne gültigen Fahrschein zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden kann. Dann wären Menschen zum Beispiel nicht mehr vorbestraft, zudem würden Strafzahlungen wesentlich geringer ausfallen. Allerdings: Wer im Fall einer Ordnungswidrigkeit sein Bußgeld nicht zahlt, muss ebenfalls in Haft – und ersetzt in diesem Fall sein Bußgeld nicht dadurch.

Wie sehr vor allem Haftstrafen Menschen aus der Bahn werfen können, zeigt der Fall von Peter: "Jedes Mal, wenn ich mein Leben wieder halbwegs in Ordnung hatte, kam ich wieder ins Gefängnis", sagt der 42-Jährige, der immer wieder aufgrund von Ticketschulden Monate absitzen musste, er habe das Gefühl, dadurch über Jahre nicht auf einen grünen Zweig zu kommen. Wahrscheinlich hätte sogar seine Krankenkasse die Fahrtkosten übernommen – "aber ich wusste einfach nicht, wen ich noch fragen kann."

Haft verursacht Millionenkosten für den Steuerzahler

Auch der Verbund der Strafvollzugsbediensteten äußert sich kritisch: Da kämen Personen in die Gefängnisse, die da nicht reingehören würden, merkt der Vorsitzender René Müller an, man sei ohnehin überlastet und könne in so kurzer Zeit keine Resozialisierung möglich machen. Auch die Leiterin der JVA Frankenthal, Gundi Bäßler, kritisiert: "Wenn jemand eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzt, dann fällt draußen auch viel auseinander." Manche verlören ihren Job, ihre Wohnung, das soziale Umfeld.

Ein Hafttag kostet den Steuerzahler zwischen 126 und 218 Euro, so steht es in einer aktuellen kleinen Anfrage der Linken an die Bundesregierung. Gerade bei Delikten, die sich im Bagatellbereich bewegen, sei das für den Steuerzahler extrem teuer, sagt Arne Semsrott. Er hat gemeinsam mit Mitstreitern die Initiative "Freiheitsfonds" gegründet.

Initiative kauft Gefangene frei

Mit Hilfe von Spenden konnte "Freiheitsfonds" die Geldstrafe von inzwischen rund 400 Gefangenen begleichen. Damit habe man dem Staat knapp 4,3 Millionen Euro gespart, führt Semsrott aus.

Er hofft auf eine schnelle Überarbeitung von Paragraf 265a. Auf Anfrage von Kontrovers und NDR wollten sich zahlreiche Verkehrsbetriebe nicht äußern. In der Vergangenheit hieß es oftmals, würde §265a abgeschafft, würde dem Schwarzfahren Tür und Tor geöffnet. Semsrott sieht das anders.

"Mit dem Paragrafen ist niemandem geholfen. Den Gefangenen nicht, weil sie ohnehin gestraft sind, den Steuerzahlern nicht und der Justiz auch nicht." Arne Semsrott

Die Hinweise auf die betroffenen Gefangenen, deren Geldstrafe beglichen werden könne, käme übrigens immer häufiger durch Justizbeamte, die die Initiative bitten, Gefangene freizukaufen.

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