Die ukrainische Armee hat nach eigenen Angaben weitere Geländegewinne in der Region um die Millionenstadt Charkiw im Nordosten des Landes erzielt. Soldaten der 127. Brigade hätten "die Russen vertrieben und die Staatsgrenze zurückerobert", teilte das Verteidigungsministerium in Kiew mit.
Es veröffentlichte ein Video, in dem an einem gelb-blauen Grenzpfosten stehende Soldaten zu sehen waren. "Wir haben es geschafft, wir sind hier", sagte einer der Soldaten an Präsident Wolodymyr Selenskyj gerichtet. Dieser bedankte sich später in einer Videobotschaft bei den Kämpfern. "Ich bin Euch sehr dankbar, im Namen aller Ukrainer, in meinem Namen und im Namen meiner Familie", sagte Selenskyj.
Kiew meldet Vernichtung russischer Depots
Den ukrainischen Truppen gelang es nach Angaben Kiews nach einer Gegenoffensive, die Gebiete nördlich von Charkiw zurückzuerobern. Russland ziehe seine Einheiten aus der Region ab und verlege sie für eine neue Offensive Richtung Luhansk in den Donbass, sagte der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch.
Der ukrainische Generalstab vermeldete am Abend weitere Erfolge: Den Angaben der Kiewer Militärs zufolge wurden russische Angriffe in der ostukrainischen Donbass-Region überall abgewehrt. So seien Vorstöße Richtung in Richtung mehrerer Städte zurückgeschlagen worden. Bei der Kleinstadt Isjum, südlich von Charkiw, bereiteten die Russen eine neue Offensive vor. "Durch den Beschuss feindlicher Depots, die in der Stadt Isjum stationiert waren, haben die Verteidigungskräfte große Munitionsbestände vernichtet", so der Generalstab.
- Zum Artikel: "Militärökonom: Ukraine kann sämtliche Gebiete zurückgewinnen"
Tote bei Beschuss von Sewerodonezk
Für Journalisten war es schwierig, ein Gesamtbild der Lage zu gewinnen. Wegen Luftangriffen und Artilleriebeschuss war es Reportern kaum möglich, sich zu bewegen, zumal beide Seiten die Berichterstattung eingeschränkt haben.
Ein Ziel der russischen Truppen ist es nach Angaben Kiews, die Regionalhauptstadt Sewerodonezk einzukesseln. Durch die Einnahme von Sewerodonezk würde der Kreml die De-facto-Kontrolle über die Region Luhansk erlangen. Die russischen Truppen würden die Stadt "ohne Unterlass" bombardieren, erklärte der Gouverneur der Region, Serhij Gajdaj. "Mindestens zehn Menschen wurden getötet." Wegen des anhaltenden Beschusses seien der Zugang zu der Gegend und die Kommunikation derzeit erheblich erschwert, erklärte Gajdaj. Er forderte die Bewohner auf, die Schutzräume nicht zu verlassen.
Karte: Die militärische Lage in der Ukraine
Offenbar Evakuierung von Soldaten aus Mariupol
Auch das Asowstal-Werk in der Hafenstadt Mariupol war erneut Luft- und Artillerieangriffen ausgesetzt. Ehefrauen der dort belagerten Soldaten baten die internationale Gemeinschaft in einer Video-Pressekonferenz um Hilfe bei der Evakuierung der gesamten Garnison, der es an Nahrung, Wasser und Medikamenten fehle.
Am späten Abend meldete die Nachrichtenagentur Reuters, dass mehrere ukrainische Soldaten aus dem Stahlwerk evakuiert wurden. Rund ein Dutzend Busse verließen demnach das riesige Werksgelände. Unklar war, ob sich Verwundete in den Bussen befanden. Zuvor hatte das Verteidigungsministerium in Moskau erklärt, es gebe eine Vereinbarung mit "Vertretern des ukrainischen Militärs zur Evakuierung" verwundeter ukrainischer Soldaten aus dem Industriekomplex. Die ukrainischen Behörden bestätigten die Angaben zunächst nicht.
Britischer Geheimdienst: Russische Offensive stockt
Der britische Militärgeheimdienst ging von herben Verlusten Moskaus in der Ostukraine aus, weshalb die Offensive "an Schwung verloren" habe. Der russische Schlachtplan sei "erheblich in Verzug", hieß es aus Geheimdienstquellen. Allerdings, so das britische Verteidigungsministerium, habe Belarus Luftverteidigungskräfte sowie Artillerie- und Raketeneinheiten im Westen des Landes stationiert. Damit könnten die ukrainischen Truppen gezwungen sein, in der Region zu bleiben, anstatt die Einsätze im Osten des Landes zu unterstützen.
Scholz: Kein Frieden mit neuen Grenzziehungen
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sieht derweil keine Anzeichen für ein baldiges Ende des Ukraine-Kriegs und warnt sogar vor einer Eskalation. "Bisher ist es leider nicht so zu erkennen, dass die Einsicht gewachsen ist, dass man das jetzt hier so schnell wie möglich beendet", sagte Scholz in der Sendung "RTL Direkt". Man müsse sich auch "Sorgen machen, dass es eine Eskalation des Krieges gibt". Der Kanzler betonte aber, dass man sich dadurch nicht lähmen lassen dürfe.
Scholz schloss abermals aus, dass es einen Frieden mit Russland geben wird, bei dem eroberte Gebiete in der Ukraine legalisiert werden. Eine Verständigung werde nicht mit einem Diktatfrieden möglich sein, bei dem die Ukraine unterschreiben solle, dass es Gebiete abtrete.
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