Medizinisches Personal auf der Intensivstation.
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Triage auf der Intensivstation - eine Extremsituation.

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Triage-Urteil: Diskriminierung kann tödlich sein

Das Bundesverfassungsgericht sieht Anhaltspunkte für Benachteiligung von Menschen mit Behinderung, wenn Mediziner über die Belegung von Intensivbetten entscheiden. Die Ampel verspricht, schnell ein Gesetz vorzulegen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 Infoblock am .

Es geht um die vielleicht schwierigsten Situationen im Krankenhaus: Alle Ressourcen zur Versorgung von Corona-Patienten sind ausgeschöpft, aber es kommen neue Patienten, die dringend intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Wer bekommt die Behandlung? Werden Menschen von der Beatmung genommen, deren Überlebenschancen geringer sind? Die Entscheidung darüber heißt Ex-post-Triage.

Dagegen geht es bei der Ex-ante-Triage darum, dass Patienten in einem ähnlich kritischen Zustand alle Beatmung brauchen, die aber nur begrenzt zur Verfügung steht – wer bekommt sie? Es geht verkürzt gesagt immer darum, der Person maximale Behandlung zukommen zu lassen, die die besseren Überlebenschancen hat.

Gesetz muss "unverzüglich" kommen

Neun Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung hatten Mitte 2020 geklagt, weil sie befürchteten, dass ihre Überlebenschancen als geringer eingeschätzt würden. Ihr Ziel: eine gesetzliche Regelung, die die mögliche Benachteiligung aufgrund der Behinderung oder Vorerkrankung ausschließt. Das Bundesverfassungsgericht hat ihnen nun Recht gegeben: Die rechtliche Regelung müsse "unverzüglich" kommen.

"Unbewusste Stereotypisierung" kann zu Benachteiligung führen

Dass das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber neue Gesetze einfordert, gilt als ungewöhnlich. Normalerweise wird lediglich eine Nachschärfung bestehender Gesetze aufgetragen. Jetzt fordert das Gericht ein komplett neues Gesetz. Denn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen werde laut Sachverständigen oft "sachlich falsch" beurteilt und eine "unbewusste Stereotypisierung" bringe das Risiko mit sich, "behinderte Menschen bei medizinischen Entscheidungen zu benachteiligen".

Triage Extremsituation auch für Mediziner

Die Richter erkennen an, dass die Triage auch für Mediziner eine Extremsituation sei. "In dieser Situation kann es besonders fordernd sein, auch Menschen mit einer Behinderung diskriminierungsfrei zu berücksichtigen", erklärt das Gericht. Genau deshalb müsse die gesetzliche Regelung her. Allerdings: Wie die aussehen soll, das lässt das Gericht weitgehend offen.

Misstrauen gegen Alleingänge

Offensichtlich hegen die Richter ein Unbehagen gegenüber Alleingängen in medizinischen Extremsituationen. Sie halten es deshalb für möglich, ein Mehraugenprinzip bei der Auswahl oder der Dokumentation einzuführen. Oder Vorgaben für Aus- und Weiterbildung für medizinisches Personal mit Blick auf Diskriminierung. Es könnten auch Kriterien festgelegt werden, die eine Benachteiligung von Behinderten unwahrscheinlicher machen: Bei der Überlebenswahrscheinlichkeit solle nur die aktuelle Krankheit in die Beurteilung einfließen.

Divi-Empfehlungen bergen Risiko der Benachteiligung von Behinderten

Die Empfehlungen zum Umgang mit Triage-Situationen werden von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) herausgegeben. Darin findet sich auch ein Satz, der Benachteiligung eigentlich ausschließt: Eine Priorisierung sei "nicht zulässig aufgrund des kalendarischen Alters, aufgrund sozialer Merkmale oder aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen und auch nicht aufgrund des SARS-CoV-2-Impfstatus". Allerdings sind die Vorgaben nicht rechtlich bindend.

Holetschek: Es darf keine Nachteile für Behinderte geben

Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek hält das Urteil des Bundesverfassungsgerichts für eine "wichtige Leitentscheidung". Es dürften bei einer Triage-Entscheidung keine Nachteile für Menschen mit Behinderung entstehen. Er gehe davon aus, dass es auch für die Ärztinnen und Ärzte wichtig sei, eine gesetzliche Grundlage für ihre Entscheidungen zu haben, so Holetschek.

Da Triage immer eine "sehr schwerwiegende und schwierige Entscheidung" sei, müsse die Politik aber alles tun, um eine Triage grundsätzlich zu vermeiden und alles daransetzen, dass genügend Kapazitäten in den Krankenhäusern zur Verfügung stehen.

Ampel will zügig Gesetzentwurf vorlegen

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: "Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat", erklärt Lauterbach auf Twitter. Dies gelte "erst Recht im Falle einer Triage".

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) kündigte an, dass die Bundesregierung zügig einen Gesetzesentwurf vorlegen werde, die Grünen fordern zeitnahe Beratungen im Bundestag. Beide Minister betonen aber: Es gehe nun darum, eine Triage-Situation zu verhindern. Tatsächlich wurde bisher kein Fall von Triage in Deutschland gemeldet.

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