Das Bild zeigt eine Impfnadel, die in einen Oberarm gestochen wird.
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Der Westbalkan hat mit dem schleppenden Impftempo sehr zu kämpfen. (Symbolbild).

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Tödliche Tatenlosigkeit: Neue Coronawelle auf dem Westbalkan

Die insgesamt rund 17 Millionen Menschen in den sechs Westbalkanländern erleben zurzeit die dritte Welle des Coronavirus. Die Gründe: Marode Gesundheitssysteme, Korruption, Überlastung, halbherzige Anti-Coronamaßnahmen.

Albanien, Bosnien und Herzegowina, der Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien. Die insgesamt rund 17 Millionen Menschen in den sechs Westbalkanländern erleben zurzeit die dritte Welle des Coronavirus und diese trifft EU-Beitrittskandidaten wie Albanien, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien, sowie Beitrittswillige wie den Kosovo und Bosnien und Herzegowina besonders unerbittlich.

Hohe Inzidenzen

Die 7 beziehungsweise 14-Tagesinzidenzen liegen dort teilweise bei deutlich über 1000, also die Neuinfektionen der vergangenen 7/14 Tage auf 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Vielerorts sind die öffentlichen Gesundheitssysteme marode, in Teilen korrupt und überlastet. Corona-Maßnahmen werden nur halbherzig durchgeführt, was zum Beispiel geöffnete Lokale zeigen.

Serbien als Ausnahme

Mit Ausnahme von Serbien wird schleppend oder überhaupt nicht geimpft und Politikerinnen und Politiker sind oft nicht willens oder in der Lage lebensrettenden Impfstoff zu beschaffen. Auch finanzielle Mittel spielen eine Rolle und die Coronazahlen zeigen überdeutlich: Bei der Bekämpfung der Pandemie haben die meisten Menschen auf dem Balkan weit weniger Chancen, diese zu überleben.

Die Zahl der Neuinfizierten, die Zahl der Erkrankten, die Zahl der Verstorbenen weist darauf hin, dass es Versäumnisse gab und dass sich jemand dafür verantworten muss. Bakir Nakas, Epidemiologe aus Sarajevo. Gemeinsam mit anderen hat er Anzeige gegen mehrere Regierungspolitiker erstattet.

Bosnien und Herzegowina. Wartelisten auf Beerdigungen

Stand 25.3.2021. Die 7-Tagesinzidenz im Land liegt teilweise bei weit über 1000 und es gibt sogar Fälle, in denen Angehörige von Coronatoten auf Beerdigungen warten müssen. Unterdessen macht ein Spottlied des „Dubioza Kolektiv“ über Fadil Novalic die Runde. Der SDA – Politiker ist Regierungschef der Föderation, einem der beiden Landesteile in Bosnien und Herzegowina.

Die Wut ist groß

Die Wut auf Novalic ist groß. Mehr als 6000 Menschen sind landesweit bereits im Zusammenhang mit Covid gestorben, doch auch Fadil Novalic hat bisher keinen Impfstoff beschafft. Hätte er Staat spielen wollen, hätte er im Dezember letzten Jahres Impfstoff besorgen können, schockierte der bosnische Politiker die empörten Bürgerinnen und Bürger.

Ein bisschen Impfstoff aus Russland

Die Aussage war ein Seitenhieb auf die „Republika Srpska“, den serbischen Landesteil von Bosnien und Herzegowina. Dieser hatte in Russland zumindest ein wenig Impfstoff ergattert. Zermürbende Innenpolitik geht damit vor Impfstoffkauf, konstatierten viele. Eine tödliche Tatenlosigkeit, die viele entsetzt hat.

Strafanzeige gegen hochrangige Politiker wegen Amtsmissbrauchs

Eine Gruppe Bürgerinnen und Bürgern in Sarajevo hat nun Anzeige wegen Amtsmissbrauchs gegen mehrere Mitglieder der bosnisch-herzegowinischen Föderations- und Zentralregierung erstattet. Der Vorwurf: Versagen beim Beschaffen von Impfstoff und Amtsmissbrauch, der zur unkontrollierten Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit, dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems und zum Tod vieler Menschen führen würde. Auf Föderationsebene wurden Regierungschef Fadil Novalic und Gesundheitsminister Vjekoslav Mandic angezeigt. Zudem der Ministerpräsident der gesamtbosnischen Zentralregierung Zoran Tegeltija.

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Das allgemeine Krankenhaus im serbischen Vranje. Hier ließen sich 100 Journalistinnen und Journalisten aus dem Nachbarland Nordmazedonien impfen.

Nordmazedonien. Mangelhafte Impfstoffversorgung

Nicht nur in Bosnien und Herzegowina. Auch in Nordmazedonien warten die offiziell knapp 2 Millionen Menschen bisher vergeblich auf einen schützenden Stich. Dabei stecken sich viele Menschen an – laut Gesundheitsministerium vor allem mit der Virusvariante, die zuerst in Großbritannien festgestellt worden ist.

Keiner hat geliefert

Das staatliche Gesundheitsinstitut in Skopje teilte mit, unter den Infizierten seien immer häufiger auch Kinder. Die jüngste 7 Tagesinzidenz liegt bei rund 330. 2400 Ärztinnen und Ärtze wurden bisher geimpft, doch das war es bisher. Ob Astra Zeneca, Sinopharm oder das EU Verteil-System Covax, keiner habe geliefert, verteidigt sich die sozialdemokratische geführte Regierung von Zoran Zaev in Skopje. Nun seien 100 000 Sputnik-Impfdosen in Russland bestellt.

Korruptionsvorwürfe statt Impfstoff

Anstelle von Impfstoff gibt es Korruptionsvorwürfe gegenüber Gesundheitsminister Venko Filipce. Beim Bestellen des chinesischen Impfstoffs Sinopharm habe er sich über eine Scheinfirma bereichert, kritisiert die größten Oppositionspartei im Parlament VMRO-DPMNE. Der Vorwurf: Den geplanten Kauf von 200.000 Dosen Sinopharm in China habe die Regierung über eine Scheinfirma abgewickelt.

Wer kann, pilgert nach Serbien

Anstatt 32 Dollar pro Dosis seien an diese 62,50 Dollar geflossen. Der VMRO-DPMNE Abgeordnete Mile Lefkovski forderte den Rücktritt des Gesundheitsministers. Mindestens 6 Millionen Dollar seien in privaten Taschen gelandet. Insgesamt habe die Regierung Zaev 12,5 Millionen Dollar bezahlt, so Lefkovski. Wer kann, pilgert unterdessen nach Serbien, so wie 100 Journalistinnen und Journalisten, die sich diese Woche in Vranje impfen ließen.

Serbien. Ausnahmeland beim Impfen. Weiter hohe Infektionszahlen

Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina und Montenegro bekamen aus Serbien jeweils mehrere tausend Impfdosen. Denn Belgrad hat sich bei europäischen Herstellern mit Impfstoff eingedeckt und auch erfolgreich in Russland und China bestellt.

Klares Zeichen in Moskau und Peking

In Moskau und Peking ein klares politisches Statement gegenüber dem EU-Kandidaten Serbien, dessen autokratischer Präsident Aleksandar Vucic auch in diesem Fall zwischen USA, EU, China und Russland agiert, um (seine) politischen Interessen durchzusetzen. Für die rund 7 Millionen Menschen in Serbien ist das in diesem Fall ein Gewinn.

Bereits mehr als 2 Millionen Impfungen

Mehr als 2 Millionen Mal wurde dort bereits geimpft. Etwa 900.000 Menschen haben bereits einen vollen Impfschutz. Allerdings: Aufgrund halbherziger Corona-Regeln und Impfskepsis liegt die 7 Tagesinzidenz auch im sehr gut impfenden Serbien bei erschreckenden 500. Experten warnen eindringlich.

Leute, ich flehe euch an. Begreift, dass das Gesundheitssystem am Rande des Zusammenbruchs steht. Es kann nur aufrecht erhalten bleiben, wenn die Maßnahmen eingehalten werden. Predrag Kon, Epidemiologe des nationalen Covid-Krisenstabs in Serbien

Grundsätzlich Impfung für jeden

In Serbien kann sich grundsätzlich jeder zu einer Impfung anmelden und die Menschen aus der Region nutzen diese Möglichkeit. Auch die serbische Wirtschaftskammer organisiert zurzeit grenzübergreifende Unterstützung dabei. Denn je mehr Menschen geimpft sind, desto besser die wirtschaftliche Perspektive.

Impftouren ins Nachbarland

Viele Kosovoserben reisen aus dem Nachbarland Kosovo an und machen Impftouren nach Serbien. Diese werden von den serbischen Behörden organisiert. Dies sorgte im Kosovo auch für Unmut, denn die Beziehungen zwischen Belgrad und Prishtina sind nicht die besten, da Serbien den Kosovo nach wie vor nicht anerkennt.

Im Kosovo fehlt Impfstoff

Doch ob für Albaner, Serben oder Romni – auch im jüngsten unabhängigen Balkanland fehlt Impfstoff an allen Ecken und Enden. Eine Mammutaufgabe für die neue kosovarische Regierung von Albin Kurti (Vetvendosje). Diese will einen Covid-19 Plan erarbeiten, damit sich weniger Menschen anstecken und weniger sterben.

Es besteht kein Zweifel, dass die Pandemie die größte Herausforderung bleibt. Innerhalb dieses Jahres wollen wir 60 Prozent der Bevölkerung mit Impfstoffen versorgen, die eine ausreichende Immunisierung bieten, um zur Normalität zurückzukehren. Albin Kurti, Regierungschef im Kosovo

500 Ärzte aus dem Kosovo in Albanien geimpft

Bis es soweit ist kann es dauern. Denn bisher wurden nur 500 Ärzte aus dem Kosovo im Nachbarland Albanien geimpft. Die sozialistische Regierung von Edi Rama dort bekam von Saudi-Arabien gerade zehntausend Dosen Sputnik geschenkt. Von den rund 3 Millionen Einwohnern sind fast 55.000 Menschen geimpft.

Kaum Impffortschritt in Albanien

Knapp 30.000 Medizinerinnen und Mediziner und Pflegepersonal, sowie rund 14.000 Lehrerinnen und Lehrer und knapp 9000 alte Menschen. Dennoch, das Impfen geht auch Albanien bisher nur langsam voran. Ab nächster Woche sollen viele Menschen an die Reihe kommen, das kündigte die Gesundheitsministerin Ogerta Manastirliu an.

Impfstoff mit Hilfe der Türkei

Albanien möchte künftig auch in Russland und China bestellen, auch mit Hilfe der Türkei. Dort hat die Regierung einen Vertrag mit einem türkischen Verteiler von Impfstoff geschlossen. In den nächsten zwei Monaten sollen eine Million Dosen des chinesischen Impfstoffs CoronaVac in Albanien angekommen sein und das Land plant auch, Impfstoff zu produzieren.

Wenig flächendeckende Impfungen in Sicht

Abgesehen von Serbien gibt es in den sechs Westbalkan-Ländern zurzeit keine flächendeckenden Impfungen. Einzelne Gruppen wie Ärzte, Lehrer und Pflegende sind geimpft, doch unter anderem alte Menschen oder Menschen mit Behinderungen haben bisher fast überall das Nachsehen. Fast 20 000 Menschen starben in den Ländern bereits im Zusammenhang mit Covid.

7-Tageinzidenz in Montenegro bei 560

Auch in Montenegro ist die Corona-Lage besorgniserregend. Die 7-Tagesinzidenz liegt bei etwa 560 und das Impfen ist auch hier noch nicht gut angelaufen. Stand 24.3.21 waren knapp 12.000 Menschen geimpft und etwas mehr als 1000 haben mit zwei Dosen bereits den vollen Impfschutz bekommen. Geimpft wurde mit Sinopharm und Spuntik und die Regierung in Podgorica erwartet weitere Lieferungen aus China und Russland, aber auch über das EU-Verteilsystem Covax.

Hoffen auf Russland, China und Türkei

Mehrere Regierungen haben dennoch keine weiteren harten Lockdowns verhängt und setzten beim Beschaffen von Impfstoff auf Russland, China oder die Türkei. Bürgerinnen und Bürger machen sich bereits Gedanken, ob sie etwa mit chinesischen Impfstoffen geimpft später ohne Extraregeln innerhalb der EU reisen können, sollte es den angedachten EU Impfpass geben.

EU hat für viele Einwohnerinnen versagt

In Bosnien und Herzegowina sind am Donnerstag 24.300 Dosen Pfizer-Biontech über das EU-Verteilsystem Covax angekommen. Die EU gibt für viele Bewohnerinnen und Bewohner der Westbalkanländer kein gutes Bild ab und es sieht nicht so bald nach einer Impfung für alle aus. Auch die Strafanzeige gegen Regierungsmitglieder in Bosnien und Herzegowina hat bisher keine Wirkung gezeigt. Esad Bajtal aus Mostar hat die Anzeige ebenfalls unterschrieben. Er fordert politische Verantwortung.

Sind sich die, die die Macht übernommen haben, der Tatsache bewusst, dass man mit einer Machtübernahme auch Verantwortung übernimmt? Wir als Bürger haben das Recht, nach dieser Verantwortung zu fragen. Esad Bajtal, Publizist aus Mostar