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Martin Schulz

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Martin Schulz und die SPD: Vom Kanzler- zum Wackelkandidaten

Vor genau einem Jahr nominierte die SPD Martin Schulz zum Kandidaten für die Bundestagswahl - die Euphorie war groß, die Hoffnung auch. Aber: Anstatt für die SPD das Kanzleramt zurückzuerobern, hat Schulz die Partei noch tiefer in die Krise geführt.

29. Januar 2017, Willy-Brandt-Haus. Wer sich heute die Bilder dieses Tages vor genau einem Jahr ansieht, der taucht in eine andere sozialdemokratische Welt ein. Als Martin Schulz im Atrium an das rote Rednerpult tritt, fast federnd, klatschen die Genossen minutenlang stehend Applaus. Dort zeigt sich eine Partei, die endlich wieder mit sich im Reinen zu sein scheint – nach den jahrelangen Querelen um die Hartz-IV-Reformen, nach den demütigenden Wahlniederlagen 2009 und 2013.

Der "Schulz-Zug" rollt

Und: Da steht ein selbstbewusster Kandidat, der Lust hat auf den Bundestagswahlkampf - anders als vor vier Jahren der missmutige Peer Steinbrück, der von der SPD "Beinfreiheit" einforderte und am Ende der Republik den Stinkefinger zeigte. Allerdings steht Schulz nur dort, weil in Parteichef Sigmar Gabriel die Einsicht gereift ist, dass er die SPD im September 2017 bei der Bundestagswahl nicht zu einem Sieg führen wird. Bei den Sozialdemokraten gilt jetzt der Slogan: "Zeit für mehr Gerechtigkeit. Zeit für Martin."

"Jeder spürt es: Es geht ein Ruck durch die SPD, es geht ein Ruck durch das ganze Land. Und ich trete mit dem Anspruch an, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden." Martin Schulz am 29. Januar im Willy-Brandt-Haus

Ehe die letzten Silben in den oberen Stockwerken des Willy-Brandt-Hauses angekommen sind - dort, wo sich die SPD-Mitarbeiter an die Geländer drängen -, gehen sie schon wieder im Jubel der Menge unter. Der "Schulz-Zug", von dem die Partei selbstbewusst spricht, nimmt Fahrt auf.

Plötzlich Kopf an Kopf mit der Union

Tatsächlich gelingt Martin Schulz im Februar und März 2017 das Kunststück, die SPD in den Umfragen wieder auf Augenhöhe mit der Union zu bringen.

Teilweise liegen die Sozialdemokraten sogar vor CDU und CSU – mit 32 gegen 31 Prozent. Das hatte es zuletzt 2011 gegeben. "Es ist wieder cool, Sozialdemokrat zu sein, auch bei jungen Menschen", schreibt der Berliner "Tagesspiegel" in jenen Tagen. Und der Duisburger Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte sagt der Zeitung damals, Schulz sorge dafür, dass der Wahlkampf ideologischer, auch strittiger und emotionaler werde. "Genau das kann Merkel nicht wirklich gut", sagte Korte. Viele Deutsche, so scheint es, sind durch mit der Kanzlerin.

„Eroberung des Kanzleramtes“

Auf ihrem Parteitag wählen die Delegierten Schulz mit einem Traumergebnis zum neuen SPD-Vorsitzenden und Nachfolger von Sigmar Gabriel. Schulz bekommt 605 von 605 gültigen Stimmen – 100 Prozent! Mehr geht nicht.

"Ich glaube, dass dieses der Auftakt zur Eroberung des Kanzleramtes ist." Martin Schulz am 19. März nach der Wahl zum SPD-Vorsitzenden

Ein großer Irrtum und auch einer der Gründe für den bis heute gewachsenen Autoritätsverlust; weckt doch dieses Ergebnis Erwartungen, die Schulz nicht erfüllen kann. Hinzu kommt: Im anstehenden NRW-Landtagswahlkampf macht er einen Fehler, der sich später bitter rächen wird. Auf Wunsch von Hannelore Kraft, die erneut in die Staatskanzlei in Düsseldorf einziehen will, verzichtet der SPD-Chef vorerst darauf, in der Öffentlichkeit Themen zu setzen.

Ein Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion, das namentlich nicht zitiert werden möchte, sagt, Schulz sei immer um Ausgleich bemüht: "Dieses Präsidiale, was er als EU-Parlamentspräsident in Brüssel praktiziert hat, funktioniert hier eben nicht. Da muss man klare Kante ziehen."

Saarland, Schleswig-Holstein, NRW – das unerwartete Niederlagen-Triple

So wie zuvor im Saarland und in Schleswig-Holstein im März verpasst die SPD auch bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2017 ihre Wahlziele. In Kiel und Düsseldorf müssen die SPD-Ministerpräsidenten Torsten Albig und Hannelore Kraft sogar ihre Schreibtische in der Staatskanzlei räumen. Die ersten heftigen Störungen im Betriebsablauf des "Schulz-Zuges".

Schulz selber spricht am Tag nach der Wahlniederlage in NRW von einer langen, steinigen und harten Wegstrecke, die der SPD bis zur Bundestagswahl im September bevorsteht. In den Wochen danach, so sagen es Sozialdemokraten im Berliner Regierungsviertel hinter vorgehaltener Hand, sei er unsicher geworden: "Da haben auch die Umfragen einen Knick bekommen. Seitdem hat sich das nicht mehr geändert. Darunter hat auch seine Entscheidungsfreude gelitten."

Von 100 Prozent auf 20,5

Am 24. September, dem Tag der Bundestagswahl, wird schnell klar, dass die SPD auf der harten Wegstrecke heftige Steinschläge abgekommen hat. Mit 20,5 Prozent holen die Sozialdemokraten ihr schlechtestes Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein aschfahler Martin Schulz sagt noch am Wahlabend, die Sozialdemokraten stünden zu einer wahrscheinlichen "Koalition aus Union, FDP und Grünen in Opposition".

Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen Ende November, die auch die Führung der Sozialdemokraten kalt erwischt, bekräftigt der Parteivorsitzende das Nein zur erneuten GroKo:

"Wir stehen angesichts des Wahlergebnisses vom 24. September für den Eintritt in eine Große Koalition nicht zur Verfügung." Martin Schulz am 20.11.2017

Vom GroKo-Gegner zum GroKo-Abhängigen

Damit begeht Schulz den nächsten strategischen Fehler, denn er stürzt sich und die SPD in ein Dilemma: Schnell merkt der Parteichef nämlich, dass ihm keine andere Wahl bleibt, als irgendwie von dem hohen Baum zu kommen, auf den er mit seiner "NoGroKo"-Festlegung geklettert ist. Die Ironie dabei: Um politisch zu überleben, braucht Martin Schulz plötzlich das ungeliebte Bündnis mit der Union.

Der "Schulz-Zug" steht. JuSo-Chef und GroKo-Gegner Kevin Kühnert findet später für die Beschreibung dieser Lage deutliche Worte. "Wahnwitzige Wendungen und Kehrtwenden" hätten stattgefunden, die zu einer "immensen Vertrauenskrise in unserer Partei" geführt hätten.

"Hervorragende Ergebnisse"

Anfang Dezember bittet die SPD-Führung auf einem Parteitag in Berlin die gut 600 Delegierten um ein Mandat, um mit CDU und CSU Sondierungsgespräche über eine große Koalition führen zu können. Schulz hält dabei eine schwache Rede, wirkt ermattet. Trotzdem stimmt der Parteitag Sondierungsgesprächen zu. Am 12. Januar kommen die Chefs von CDU, CSU und SPD im Willy-Brandt-Haus nach tagelangen Verhandlungen zur finalen Runde zusammen. Nach 24-stündiger Sitzung präsentieren sie der Hauptstadtpresse ein 28-seitiges Papier. Die meisten Beobachter im politischen Berlin halten dieses nicht für den großen Wurf für die Sozialdemokratie. Martin Schulz sieht das anders. "Ich glaube", sagt er, "dass wir hervorragende Ergebnisse erzielt haben."

Neun Tage später billigt ein weiterer Parteitag mit 56 Prozent das Sondierungspapier und damit den Eintritt in Koalitionsverhandlungen.

"Sollten wir uns am Ende dafür entscheiden, dass wir in eine Koalition mit der Union eintreten, dann haben wir in dieser Koalition nicht den Anspruch, der Juniorpartner zu sein oder der Umsetzungsgehilfe." Martin Schulz am 21.01.2018 auf dem Sonderparteitag

Brennt Schulz nicht mehr?

Allerdings ist es nicht Schulz, der die Delegierten mit seiner Rede vom Hocker reißt. Es sind die Frauen in der SPD, unter ihnen die stellvertretende Parteivorsitzende Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Die eigentliche Retterin ist aber Bundestags-Fraktionschefin Andrea Nahles – mit einer krachenden Sieben-Minuten-Rede. "Schulz fehlt das Feuer", sagt ein Delegierter nach dem Parteitag: "Es muss brennen. Wie, hat man bei Andrea Nahles gesehen."

Ministerposten? Schulz sollte verzichten, sagen erste SPDler.

Wie steht es jetzt um Martin Schulz? Die jetzt laufenden Koalitionsverhandlungen bieten ihm die Möglichkeit, seine Rolle zu finden, sich als Führungspersönlichkeit neu in der SPD zu positionieren. Er muss für seine Partei die inhaltlichen Erfolge und "dicken Fische" an Land holen, die im Sondierungspapier fehlen.

Wie schlecht es dabei um seine Autorität bestellt ist, zeigt eine Äußerung des zukünftigen SPD-Chefs von Thüringen, Wolfgang Tiefensee. Schulz solle in einer möglichen neuen GroKo auf ein Ministeramt verzichten, fordert der Ex-Bundesverkehrsminister in einem Interview. Alles andere würde seine Glaubwürdigkeit erschüttern. Das sagen so im Berliner Regierungsviertel auch andere Genossen – wieder hinter vorgehaltener Hand. In einem Kabinett Merkel zu sitzen, hat Schulz bis vor kurzem mehrfach kategorisch ausgeschlossen. Auf dem Parteitag am 21. Januar so direkt dann nicht mehr.