Archivbild: Recep Tayyip Erdoğan
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Klartext und Kooperation: Scholz' Gratwanderung mit Erdoğan

Der Begriff "schwieriger Partner" umschreibt die Rolle des türkischen Präsidenten aus deutscher Sicht beinahe freundlich. Beim Thema Krieg in Israel und Gaza könnten Berlin und Ankara kaum weiter auseinanderliegen. Heute kommt Erdoğan zu Besuch.

Über dieses Thema berichtet: BAYERN 3-Nachrichten am .

Eins ist ziemlich sicher, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan an diesem Freitag zusammen vor die Presse treten: Sollte Erdoğan seine Verbalattacken gegen Israel auf offener Bühne im Berliner Kanzleramt fortsetzen, wird Scholz dazu nicht schweigen können. Das hat er einmal getan, als Palästinenserpräsident Mahmud Abbas bei einem Berlin-Besuch Israel 50-fachen Holocaust an den Palästinensern vorwarf. Die empörte Reaktion darauf folgte nicht sofort an Ort und Stelle, sondern erst später per "Bild-Zeitung": Die Äußerungen seien "unerträglich und inakzeptabel", hieß es mit einiger Verzögerung.

Das wird Scholz wohl nicht noch einmal passieren. Er dürfte auf wiederholte oder neue Attacken Erdoğans gegen Israel gut vorbereitet sein, wenn er ihn zum Abendessen im Kanzleramt empfängt. Vor dem Gespräch ist eine "Pressebegegnung" geplant - der einzige Termin während des Besuchs, bei dem sich beide öffentlich äußern. Vor dem Bundeskanzleramt und Schloss Bellevue - auch ein Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist geplant - werden Proteste erwartet. Die Gesellschaft für bedrohte Völker und ein kurdisches Netzwerk kündigten eine Demonstration an - wegen der illegalen Besetzung der syrischen Region Afrin.

Erdoğan nennt Israel einen Terrorstaat"

Erdoğan hatte die Ermordung vieler hundert israelischer Zivilisten beim Terrorangriff am 7. Oktober zwar verurteilt, die dafür verantwortliche Hamas aber später als "Befreiungsorganisation" bezeichnet. Israel bezeichnete der türkische Präsident dagegen als "Terrorstaat" und stellte sogar dessen Existenzrecht infrage. Die deutsche Sichtweise ist genau umgekehrt. Die Hamas ist hier als Terrororganisation eingestuft und die Sicherheit Israels gilt als deutsche Staatsräson. Scholz hat die Verbalattacken Erdoğan daher bereits als "absurd" zurückgewiesen. Den Gesprächskanal zur Türkei will er sich dadurch aber nicht verbauen. Es gebe viele Themen mit Erdoğan zu besprechen, sagt er immer wieder.

Die Türkei als Vermittler

Unter den mehr als 200 Geiseln der Hamas im Gazastreifen sind auch deutsche Staatsbürger. Die Bundesregierung versucht seit Wochen die diplomatischen Kanäle zu nutzen, um sie freizubekommen. Die Türkei könnte mit ihren Beziehungen zur Hamas als Vermittler fungieren. Bislang spielt Katar aber eine weitaus größere Rolle, was das angeht. Perspektivisch könnte die Türkei allerdings als Brückenstaat zwischen dem Westen und der islamischen Welt bei der Suche nach einer politischen Lösung des Nahost-Konflikts mitmischen.

Der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei

Von den Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer hat Scholz gerade erst den Auftrag bekommen, sich für die Wiederbelebung des 2016 geschlossenen Flüchtlingspakts zwischen der EU und der Türkei einzusetzen. Über ihn hatte sich die Türkei verpflichtet, die Schleuseraktivitäten an ihrer Grenze zu stoppen und Migranten zurückzunehmen, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen. Im Gegenzug erhielt Ankara von der EU Milliardenhilfen unter anderem für die Unterbringung der Flüchtlinge.

Von Griechenland nimmt die Türkei jedoch seit 2020 keine Migranten mehr zurück - begründet wurde das damals mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Der Chef der Jungen Union, Johannes Winkel, kritisierte derweil seine Partei für das Festhalten am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und warnte im "Tagesspiegel" vor einer Abhängigkeit Erdoğans.

Nato-Mitglied mit guten Kontakten zu Russland

Hilfreich kann die Türkei als Nato-Mitglied mit guten Kontakten zu Russland auch im Ukraine-Krieg sein. So war Ankara maßgeblich an der Vereinbarung des sogenannten Getreidedeals beteiligt. Russland hatte das Abkommen im Juli zwar auslaufen lassen, bis dahin konnten aber Millionen Tonnen ukrainisches Getreide über das Schwarze Meer exportiert werden. Die Türkei setzt sich für eine Neuauflage der Vereinbarung ein.

Regierung und Union einig: Besuch ist richtig

Wegen all dieser Punkte sind sich Ampel-Regierung und Union weitgehend einig, dass der Besuch Erdoğans in Berlin richtig ist. Es gibt aber auch Kritiker. Der Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag, Max Lucks (Grüne), forderte, deutsche Rüstungsexporte in die Türkei auf den Prüfstand zu stellen. "Wir müssen hinterfragen, ob und welche Rüstungsexporte an die Türkei gehen", sagte Lucks im Interview mit der Nachrichtenagentur AFP.

Kritik an Visavergabe

Und auch ein anderes Thema könnte bei dem Besuch auf den Tisch kommen. Türkische wie deutsche Vertreter der Wirtschaft werfen den Auslandsvertretungen der Bundesrepublik vor, nicht ausreichend und zu langsam Visa zu erteilen. Das bedrohe ein potenziell großes Geschäftsvolumen für die deutsche Wirtschaft, sagte Annika Klar von der Deutschen Messe in der Türkei. Die Bundesrepublik ist für Ankara ein wichtiger Wirtschaftspartner und einer der größten Investoren. 2022 stieg das Handelsvolumen zwischen Deutschland und der Türkei laut Auswärtigem Amt mit insgesamt 51,6 Milliarden Euro auf einen neuen Rekordwert.

Aus deutschen Diplomatenkreisen in der Türkei wurden Probleme mit langen Wartezeiten eingeräumt. Hintergrund seien deutliche personelle Engpässe in den Visastellen der Auslandsvertretungen. In Istanbul und Ankara etwa gebe es einen Rückstau von mehr als zehntausend Anträgen. In der türkischen Presse ist die Visa-Vergabe unter anderem von Seiten deutscher Vertretungen bereits seit längerem ein Thema. Immer wieder wurde darin auch ein politischer Hintergrund unterstellt. Auch der türkische Präsident hatte im Mai dieses Jahres von "politischer Erpressung" in diesem Zusammenhang gesprochen.

Mit Informationen von dpa und AFP

Im Video: Erdoğan zu Besuch in Berlin

Der türkische Präsident ist zu einem Kurzbesuch in Berlin eingetroffen.
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Der türkische Präsident ist zu einem Kurzbesuch in Berlin eingetroffen.

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