Die Bildkombo zeigt die Hände von Gebärdendolmetscherin Kathrin-Marén Enders, die ihre Finger sprechen lässt.
Bildrechte: Arne Dedert/dpa

Statt menschlicher Dolmetscher wollen mehrere Kommunen Gebärdensprach-Avatare einsetzen, um barrierefreiheit zu erzielen.

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Gehörlose kritisieren Gebärdensprach-Avatare

Behörden, Kommunen und Institutionen müssen ihre Informationsangebote barrierefrei zur Verfügung stellen. Für Gebärdensprache wird im digitalen Zeitalter auf Avatare gesetzt. Verbände und die Gebärdensprachgemeinschaft begegnen diesen eher kritisch.

Damit beispielsweise Webseiten barrierefrei sind, möchten unter anderem der Landkreis München und weitere Kommunen Gebärdensprach-Avatare einsetzen. Immer mehr solcher Projekte werden gefördert, auch von der Regierung.

Denn nach dem Behindertengleichstellungsgesetz und Barrierefreiheitsstärkungsgesetz müssen Behörden, Dienstleister und Unternehmen eine digitale, barrierefreie Infrastruktur bereithalten. Eben mit Avataren, computeranimierten menschenähnlichen Figuren, die das Gesprochene in Gebärdensprache wiedergeben – eine gute Sache für die Gehörlosen, oder?

Das Problem der fehlenden Sichtbarkeit

Dass Gebärdensprach-Avatare die Dolmetschung übernehmen sollen, sehen aber nicht nur Gehörlosenverbände und -communities in Deutschland, Österreich und der Weltverband als ein Risiko. Jahrhundertelang war die Gebärdensprache verboten und stigmatisiert. Obwohl die Gebärdensprache in vielen Ländern inzwischen offiziell anerkannt ist, müssen Gebärdensprachnutzer seit Jahrzehnten um mehr Sichtbarkeit in den Medien, in der Politik und in der Gesellschaft kämpfen.

Auch "Verbal", die Zeitschrift des Verbands für Angewandte Linguistik in Österreich, befürchtet, dass durch Avatare die Gefahr besteht, dass die Gebärdensprache wieder in der Unsichtbarkeit verschwindet. Die Sorge ist: dass von animierten Avataren verwendete Gebärdensprache von hörenden Menschen leicht als "künstliche" und damit nicht ernst zu nehmende Sprache wahrgenommen werden könne.

Denn animierte Kunstfiguren, die aus Cartoons oder Animationsfilmen entsprungen zu sein scheinen, trügen mit allergrößter Wahrscheinlichkeit längerfristig dazu bei, dass ÖGS (Österreichische Gebärdensprache) von hörenden Menschen verstärkt als "künstliche" Sprache oder Spielerei wahrgenommen werde.

Im Video: Livian - Ein Gebärdensprach-Avatar

Warum Gebärdensprache und keine Texte?

Aber warum Gebärdensprach-Avatare und nicht einfach Untertitel, oder Texte lesen? Für Gehörlose ist die deutsche Schriftsprache wie eine Fremdsprache. Diese kann nicht über das Gehör erlernt werden. Für viele Gehörlose ist daher Gebärdensprache ihre Erstsprache. Die Gebärdensprache ist eine vollwertige anerkannte Sprache mit eigenen komplexen Strukturen und einer eigenen Grammatik. Diese unterscheidet sich stark von der deutschen Schriftsprache. Deswegen sind Gehörlose von Informationen ausgeschlossen, sobald es um Texte geht.

Mangelnde Qualität der Avatare

Sind Gebärdensprach-Avatare also doch eine gute Lösung? Auf den ersten Blick ja: Die Avatare – oft erstaunlich gut gestaltete computeranimierte Figuren mit Gebärdensprach-Vokabular und Mimik – sind faszinierend anzusehen. Aber nur für einen kurzen Moment. Dem Gebärdensprachnutzer fällt sofort auf, dass der Avatar unnatürlich ist: Die Bewegungen sind mechanisch, die Lippen- oder Zungenbewegungen sind nicht korrekt, die Mimik ist nicht ausgefeilt, der Gebärdenfluss unnatürlich. Für hörende Personen sind sie mit monotonen, holpernden computeranimierten Stimmen vergleichbar. Längere Gespräche oder gar reguläre Einsätze damit sind kaum auszuhalten.

Außerdem bemängelt der Weltverband der Gehörlosen, dass eine exakte Eins-zu-Eins-Übersetzung von der Lautsprache in die Gebärdensprache nicht möglich sei. Der Kontext und die Kultur müssten bei der Übersetzung immer berücksichtigt werden. Gebärdensprache sei sehr komplex und benötige die richtige Mimik, Handform und Ausführung der Gebärden – wie sie nur menschliche Gebärdensprachnutzer beherrschen. Sprachlich sowie inhaltlich lieferten Avatare eine "mindere Qualität", so "Verbal".

Menschenrecht versus Kosten

Ein Argumentationspunkt, weswegen auf Gebärdensprach-Avatare gesetzt werden soll, sind die Kosten: Avatare seien kostengünstiger als menschliche Dolmetscher. "Verbal" hält dagegen, dass es sich bei dem Zugang zur ÖGS (Österreichische Gebärdensprache) um ein Menschenrecht handle, das man nicht mit Geld aufwiegen könne. Das gilt genauso für die Deutsche Gebärdensprache und andere Gebärdensprachen weltweit.

Wann der Einsatz in Ordnung ist

Zwar sind alle für mehr Teilhabe und begrüßen es, wenn mehr Barrierefreiheit das Ziel ist. Und so gut wie alle Verbände der Gehörlosen sind sich einig: Avatare haben Potenzial für bestimmte Einsatzbereiche. Sie können für vorab aufgezeichnete kurze Kundeninformationen verwendet werden, beispielsweise in Bahnhöfen, im öffentlichen Verkehr oder in Hotels.

Außerdem hat an der Universität Wien ein Forschungsteam nun einen Leitfaden für den Einsatz von Gebärdensprach-Avataren erarbeitet. Dabei haben taube und hörende Experten und User kooperiert. Sprachwissenschaftlerin Verena Krausneker: "Unsere Empfehlungen für Gebärdensprach-Avatare basieren auf empirischen Daten. Sie leiten dazu an, die Technik so einzusetzen, dass sie für taube gebärdensprachige Menschen tatsächlich einen Gewinn darstellt."

Was die Gehörlosencommunity fordert

Die Entwicklung von Avataren ist (noch) sehr aufwändig und vor allem kostspielig. Daher fordert der Gehörlosenverband München und Umland e.V. seit Langem, dass die (öffentlichen) Forschungsgelder sinnvoller in anderen Bereichen eingesetzt werden sollen: In der Dolmetschausbildung und Förderung von Dozenten für Deutsche Gebärdensprache.

Aber vor allem in der Qualifizierung von Lehrkräften für gehörlose Schülerinnen und Schüler. Denn oftmals beherrschen die Lehrkräfte nicht oder nicht ausreichend die Gebärdensprache. Es müssten auch viel mehr Medien verdolmetscht werden, aber vorrangig von echten Menschen, so "Verbal". Die Gebärdensprache müsse viel sichtbarer gemacht werden.

Im Video: Kommentar von Iris Meinhardt aus den ARD-Tagesthemen

Auch für die Autorin des Artikels, Iris Meinhardt, ist die Gebärdensprache ihre Muttersprache. Sie ist selbst taub.

Tafel zum Lernen der Gebärdensprache
Bildrechte: MEV/Karl Holzhauser
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Tafel zum Lernen der Gebärdensprache

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