Franken - Kultur


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Jean Paul und mein Vater Mit dem roten Band in der Hand auf der Bank

Der Nürnberger Kulturhistoriker und Publizist Hermann Glaser nähert sich mit zehn kleinen Texten dem fränkischen Dichter Jean Paul. Folge 1: Mit dem roten Band in der Hand auf der Bank – Jean Paul und mein Vater.

Von: Hermann Glaser

Stand: 15.03.2013 | Archiv

Bücherstapel | Bild: colourbox.com

Wenn die schönen Septembertage kamen, machten wir Urlaub, meist in einem einsamen Gasthof der Hersbrucker Schweiz. Ein Zimmer zu bekommen, mit Halbpension, war ohne Probleme möglich; denn es war Reichsparteitag in Nürnberg und an ihm nicht teilzunehmen, konnte nur jemandem einfallen, der sich und seine Familie wie mein Vater (seit den Anfängen des Dritten Reiches) vom "braunen Gift" fernhalten wollte.

Zwölf in rotem Karton gebundene Bände

Jeden Tag nach dem Frühstück, meist bei strahlendem Sonnenschein – man nannte das "Reichsparteitagswetter" –, spazierte mein Vater mit Mutter und mir eine kleine Wegstrecke in den Wald und ließ sich auf einer der zahlreichen Bänke nieder. Er zog aus der Tragetasche, in der noch ein paar Vesperbrote und Strickzeug für die Mutter sich befanden, einen Band seiner Jean-Paul-Ausgabe heraus; von den zwölf in rotem Karton gebundenen Bänden (Ausgabe 1879), die sich jetzt in meinem Besitz befinden, nahm er in den Urlaub immer ein paar mit und begann zu lesen; manchmal auch laut. Für mich war das ziemlich langweilig; ich sammelte derweilen Gräser und Körner in einer Zigarrenschachtel und spielte "Bauernhof".

Ein Grab "aushauen"

Seither besteht meine Bekanntschaft mit unserem fränkischen Dichter. Ich glaube mich sogar an einige von meinem Vater vorgelesene Stellen zu erinnern, etwa an den Schluss des "Maria Wutz", weil dort von einem Grab die Rede war, das "ausgehauen" werden musste. Das war mir unverständlich und prägte sich deshalb ein. Aus späteren Gesprächen, die ich beim Studium mit meinem Vater führte, weiß ich, dass er in dieser Stelle die Essenz einer auch von ihm geteilten Lebensanschauung sah. Der Dichter ist zur Beerdigung seines Freundes, des Schulmeisterlein Wutz, der ein glückliches einfaches Leben geführt hat, in dessen Dorf gekommen; als er es wieder verlässt, sieht er, wie auf dem Friedhof der Totengräber das Grab "aushaut".

"Als ich das Leichenläuten seinetwegen hörte und daran dachte, wie die Witwe im stummen Kirchturm mit tränenden Augen das Seil unten reißt, so fühlte ich unser aller Nichts und schwur, ein so unbedeutendes Leben zu verachten, zu verdienen und zu genießen."

Jean Paul            

Hoffentlich werden wir das Leben auch wieder einmal genießen können, meinte mein Vater und dachte an die Zeit nach dem Ende des Dritten Reiches. In der Tat überlebten wir die schlimme Zeit und genossen vom ersten Tag an nach der Befreiung die sich nun öffnenden kulturellen Perspektiven. Mein Vater konnte im Bücherschrank die Werke der verfemten und verbrannten Autoren wieder nach vorne rücken, Jean Paul hätte er nicht verbergen müssen, weil durch ihn die Volksgenossen nicht gefährdet waren; man las ihn ja gar nicht. Warum mein Vater ihn so begierig als Lieblingslektüre in sich aufnahm? Er empfand einen Dichter, der den Deutschen den Rat gegeben hatte, zu Hause zu bleiben, als Gegengewicht zum Nationalsozialismus. Ein zutiefst humaner Dichter; aber Humanität galt ja damals als Schwäche.


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