Franken - Kultur


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Erinnerungen Jean Paul und sein karges Kindheitsglück

Viele hatten eine schreckliche Kindheit, voller Leiden und Entbehrungen, und doch werden bittere Erlebnisse später in ein mildes Licht getaucht und romantisiert. Für Jean Paul gilt das in ganz besonderem Maße.

Von: Hermann Glaser

Stand: 19.06.2013 | Archiv

Nachbildung von Jean Pauls Schreibstube | Bild: picture-alliance/dpa

"Die Erinnerung", meinte Jean Paul, "ist das einzige Paradies, woraus wir nicht vertrieben werden können." Gerade in unserer Zeit digitaler, medialer und realer Expansion, die uns ins Große und Weite des Globus hinwegträgt, haben wir das nostalgische Gefühl, dass die umgrenzte, kleine Kindheitswelt – der Vor-Schein von Heimat – uns beglückenden Halt in den Irrungen und Wirrungen des Lebens gibt. Das bestätigen soziologische Untersuchungen, die davon sprechen, dass viele Erwachsene gerne von ihren Kindheits- und Jugendjahren sprechen und ihre Erinnerungen zum Beispiel in umfangreichen Manuskripten aufschreiben; diese werden freilich selten gedruckt.

"Dichtung und Wahrheit"

Auch gibt es eine große Zahl belletristischer Bücher, die oft in sich, wie der Titel von Goethes Lebenserinnerungen besagt, "Dichtung und Wahrheit" vereinen. –Jean Paul gehört zu den Schriftstellern, die das Paradies der Kindheit suchten. Allerdings blieb die im Juli 1818 begonnene Niederschrift, "Selberlebensbeschreibung" genannt, Fragment. Schon nach einem Monat klagte er einem Freund, er sei durch seine Romane "so sehr ans Lügen gewöhnt", dass er zehnmal lieber jedes andere Leben beschreibe als sein eigenes.

Kann es ein "Erinnerungsparadies" geben?  

Ist das Wort vom "Erinnerungsparadies" vielleicht auch eine Lüge oder zumindest eine Illusion? Viele hatten eine schreckliche Jugend, voller Leiden und Entbehrungen, Ausbeutung und seelischen Qualen. Und dennoch werden solche frühen bitteren Erlebnisse in ein mildes Licht getaucht und romantisiert. Eine Erklärung mag ein englisches Sprichwort liefern: "Distance lends enchantment to the view." ("Durch Entfernung wird der Blick [auf die Wirklichkeit] verzaubert.")       

Leiden unter den Erziehungsmethoden des Vaters

In ganz besonderem Maße trifft dies für unseren weltberühmten fränkischen Dichter zu. Joditz war für ihn später das Kindheitsparadies schlechthin, obwohl er eigentlich eine schwere Zeit dort erlebte. 1765 kam er im Alter von zwei Jahren in das bei Hof gelegene Dörfchen. Dort hatte der musikalisch hoch begabte Vater – Kantor, Organist, Lehrer und studierter Theologe – eine Pfarrstelle bekommen. Er war eine zerrissene Natur, jähzornig, hart, aber auch gesprächig und heiter, eben vielerlei Stimmungen unterworfen: Unter seinen Erziehungsmethoden, darunter ständiges Auswendiglernen, mussten die Kinder sehr leiden. Heute ist ein Pfarrer eine gut situierte Person; damals hatte die Familie oft kaum etwas zu essen; die in der Nähe wohnenden Großeltern halfen wenigstens etwas aus.

Bitter-süße Erinnerung

Und doch erscheinen die kargen, armen und auch armseligen Joditzer Jahre in idyllischem Schein. Das Bittere wird süß durch "Kindheitszucker". Und weil man etwa schöne Wochenende verlebte. Worin bestanden da die Freuden? Am Samstagmorgen saß der Vater "in einer Fensterecke und lernte seine Sonntag-Predigt auswendig und wir drei Brüder Fritz (das bin ich selber) und Adam und Gottlieb (denn Heinrich kam erst gegen Ende des Joditzer Idyllenlebens dazu) trugen abwechselnd die volle Kaffeetasse zu ihm, um noch froher die leere zurückzuholen, weil der Träger die ungeschmolzenen Reste des gegen Husten genoßnen Kandiszucker frei aus ihr nehmen durfte."    

Keinem Kind will man Jugend à la Joditz wünschen; aber Jean Pauls Schilderung macht daraus eine so schöne gute alte Zeit, dass wir heute noch voller Wehmut dahinschmelzen. Der Dichter lehrt uns, dass wir bei immer mehr sich steigernder Begehrlichkeit die Freude am Einfachen nicht verlieren sollten. Ich fungiere da als einer, der sozusagen ein mahnendes "Wort zum Sonntag" spricht – in Konkurrenz zum Vater Richter, freilich als Vertreter einer humanen Pädagogik, im Sinne des Jean-Paul-Wortes: "Kinder und Uhren dürfen nicht beständig aufgezogen werden, man muss sie auch gehen lassen."         

Andenken an Jean Paul in Joditz

Übrigens: Das erdichtete idyllisch-glückliche Leben in Joditz, "voller einfacher Lustbarkeiten", kann man heute real erleben, wenn man den Ort besucht. Dort haben der Buchhändler Eberhard Schmidt und seine Frau Karin mit großem Feingespür und einfühlender Liebe zum Detail das Andenken an Jean Paul in einen musealen Rahmen gestellt. Im Gartenhaus des ehemaligen Pfarrgartens schufen sie das wohl schönste kleinste Museum Deutschlands. Hier erlebt man bei Büchern, Manuskripten, Bildern und Gegenständen den Dichter gewissermaßen "leibhaft", ein Poet, der den Kosmos der Welt und der Seele durchschritten und als kreatives Genie sprachlich gebannt hat. Wohl dem, der ein Kindheits-Paradies beim Lebensgang in der Erinnerung mit sich tragen kann – ein Halt, den keine Computer-Festplatte geben kann.


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