Blick auf den Corvatsch-Gletscher. Er ist von der Eisschmelze besonders betroffen.
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2022 haben die Gletscher in der Schweiz massiv an Eis verloren. Kleine Gletscher, wie den Corvatsch (im Bild), trifft es besonders.

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Schweizer Gletscher 2022 stärker geschmolzen als je zuvor

Die Gletscher in der Schweiz haben in diesem Jahr mehr als sechs Prozent ihres Eisvolumens verloren - so viel wie noch nie, berichten Schweizer Forscher. Was das bedeutet - die Einschätzung dazu von dem Glaziologen und Alpen-Kenner Christoph Mayer.

"2022 war für Schweizer Gletscher katastrophal", schreibt die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) in einer am Mittwoch veröffentlichten Mitteilung. Rund drei Kubikkilometer Eis hätten die Schweizer Gletscher laut einer Expertenkommission der SCNAT im Jahr 2022 verloren. Das seien mehr als sechs Prozent des verbleibenden Eisvolumens, sagen die Wissenschaftler.

Zum Vergleich: Bislang wurden Jahre mit zwei Prozent Eisverlust schon als "extrem" bezeichnet. Die Ursachen für die Schmelze sind: sehr wenig Schnee im Winter, Saharastaub im Frühling und der heiße Sommer. Was diese Entwicklung bedeutet, dazu Christoph Mayer, Glaziologe an der Bayerischen Akademie für Wissenschaften, im BR-Interview.

  • Zum Artikel: Warum es für Alpengletscher ein besonders schlimmes Jahr ist

Massive Gletscherschmelze - nicht nur ein Schweizer Phänomen

Nein, die von der SCNAT beobachtete Gletscherschmelze sei kein rein Schweizerisches Phänomen. "Die Gletscherschmelze erstreckt sich dieses Jahr über den gesamten Alpenbogen. Wir machen dieselben Beobachtungen auch in Deutschland und Österreich", sagt der Glaziologe Mayer.

Dieses Jahr war zwar mit seinen Extremen, dem wenigen Schnee im Winter, dem "Supersommer", in dem es auch auf großen Höhen nie Schnee gab, weil es "durchgehend schön war", ein Ausnahmejahr. "Aber wir wissen nicht, ob das die Regel wird", erklärt der Münchner Wissenschaftler. Wenn dies der Fall wäre, "wären eigentlich alle Prognosen hinfällig". Das heißt: Die Gletscher würden noch viel schneller schmelzen, als bisher vorhergesagt.

Glaziologe: Erhalt der Gletscher gelingt nur durch Reduktion der Treibhausgase

Um den Trend zu stoppen, der besonders seit den Jahren 2010, 2011 zu beobachten ist, weiß Mayer nur ein Mittel: Die schädlichen Treibhausgase reduzieren, "damit wenigstens bis zum Ende des Jahrhunderts noch ein paar Gletscher übrigbleiben". Das Abdecken der Gletscher mit Folien zum Schutz vor massiver Sonneneinstrahlung hält er für "illusorisch". Das sei weder personell noch finanziell machbar. Abgesehen davon würden die Produktion, das Anbringen und das Entsorgen der Folien auch viele schädliche Emissionen erzeugen.

Die Entwicklung der Schweizer Gletscher - für Experten eine Überraschung?

Über schmelzende Gletscher wird seit Jahren berichtet. Für den Wissenschaftler Christoph Mayer waren die nun veröffentlichten Beobachtungen trotzdem speziell. "Was uns schon überrascht hat: dass selbst in ganz großen Höhen so viel Eisschmelze zu beobachten war." Die jetzt veröffentlichten Ergebnisse könnten Anlass sein, darüber nachzudenken, wohin es gehen könnte - und auch Anlass, die notwendigen Maßnahmen endlich zu ergreifen, mahnt der Forscher.

Die aktuelle Situation der Schweizer Gletscher - und die Ursachen

Eine Expertenkommission der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz hatte in ihrer Mitteilung berichtet, dass die Eisschmelze vor allem kleine Gletscher besonders hart treffe. So seien der Pizolgletscher, der Vadret dal Corvatsch und der Schwarzbachfirn praktisch verschwunden. Die Messungen dort seien bereits eingestellt worden. Im Engadin und im südlichen Wallis schmolz Wissenschaftlern zufolge in 3.000 Metern Höhe über dem Meeresspiegel eine Eisschicht von vier bis sechs Metern Dicke. Das sei teils mehr als doppelt so viel wie das bisherige Maximum.

Beobachtungen zeigten, so die Wissenschaftler, dass viele Gletscherzungen zerfallen und Felsinseln aus dem dünnen Eis inmitten des Gletschers auftauchen. Dadurch werde der Eisverlust weiter beschleunigt. Wenig Schnee, die andauernde Hitze im Sommer, aber auch der Saharastaub im Frühjahr, durch den der Schnee - weil verunreinigt - mehr Sonne aufnimmt und noch schneller schmilzt, seien die Ursachen für die rasante Eisschmelze, die alle bisherigen Rekorde bricht.

Gletscherschmelze in den Alpen - die bisherige Prognose

Rund 5.000 Gletscher gibt es in den Alpen insgesamt. Bis zum Jahr 2100 könnten nach einer Studie der ETH Zürich aus dem Jahr 2019 zwei Drittel aller Alpengletscher verschwunden sein. Das träfe aber nur dann zu, wenn das Pariser Klimaabkommen mit seinem 1,5 Grad-Ziel eingehalten werde, so die Forscher in ihrer Studie.

Gelingt dies nicht und erwärmt sich das Klima schneller, könnten bis zu 90 Prozent der Gletscher in den Alpen verschwinden. Andere Prognosen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Gletscher in den Alpen schon in den nächsten zwei Jahrzehnten halbiert.

Warum uns schmelzende Gletscher etwas angehen

Wenn Gletscher vermehrt abschmelzen, hat das Folgen für alle. Zunächst herrscht ein Überangebot an Wasser. Doch danach folgt Wasserknappheit: Denn: Drei Viertel der Süßwasserreserven bestehen aus Eis und Schnee. Die Folge: Flussbetten trocknen aus und der Grundwasserpegel sinkt. Mit den Gletschern geht also ein wichtiger Teil unserer Süßwasserreserven verloren.

In Deutschland hatte zuletzt der Südliche Schneeferner an der Zugspitze seinen Status als Gletscher verloren.

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