Finger hält ein pinkes Kondom
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Laut Experten haben mehr Menschen wieder sexuelle Kontakte ohne ausreichenden Schutz.

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Geschlechtskrankheiten: Fallzahlen schießen in Bayern nach oben

Sexuell übertragbare Krankheiten wie Syphilis, HIV oder Gonorrhoe nehmen in Bayern zu. Nach zwei Jahren Corona-Beschränkungen war der Anstieg 2022 besonders steil. Die BR24-Datenanalyse zeigt: Männer sind deutlich häufiger betroffen als Frauen.

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Über dieses Thema berichtet: IQ - Wissenschaft und Forschung am .

Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, HIV und Gonorrhoe sind in Bayern deutlich auf dem Vormarsch. Das belegen die Meldedaten der vergangenen Jahre. Im Jahr 2001 wurden dem Robert Koch-Institut (RKI) für Bayern 195 Syphilis-Fälle gemeldet – im Jahr 2022 waren es knapp 1.400, also siebenmal so viele. Die HIV-Diagnosen haben sich im Vergleich zum Jahr 2001 fast verdoppelt.

In den Corona-Jahren 2020 und 2021 gingen die Fallzahlen aufgrund der Kontaktbeschränkungen zurück oder stagnierten – dafür war der Anstieg in 2022 dann besonders stark. Die folgende Grafik zeigt, wie genau sich die gemeldeten Fälle von HIV und Syphilis in Bayern in den vergangenen 20 Jahren entwickelten:

Grafik: Entwicklung von Syphilis und HIV in Bayern

Infektionen mit Syphilis und HIV müssen in Deutschland laut Infektionsschutzgesetz schon seit Längerem gemeldet werden. Diese Meldedaten werden vom RKI zur Verfügung gestellt. Für Gonorrhoe besteht erst seit 2022 eine generelle Meldepflicht, bei Chlamydien muss seit 2022 ein bestimmter Erreger gemeldet werden. Ausnahme: Im Bundesland Sachsen besteht eine Labormeldepflicht. Andere sexuell übertragbare Krankheiten wie Herpes oder eine HPV-Infektion sind nicht meldepflichtig.

Stichproben: Auch andere Geschlechtskrankheiten nehmen zu

Allerdings untersuchen Fachstellen wie das RKI und die Deutsche STI-Gesellschaft zur Förderung der Sexuellen Gesundheit (DSTIG) auch anhand Labor-Stichproben und im Rahmen von Studien. So geht die DSTIG davon aus, dass sich in Deutschland aktuell jedes Jahr 300.000 Menschen mit Chlamydien infizieren und 30.000 mit Gonokokken (Gonorrhoe) – nochmal deutlich mehr als mit HIV und Syphilis. Die Entwicklungen, die sich in diesen Untersuchungen abzeichnen, bestätigen die Meldedaten: Die Fälle nehmen zu.

Sonderfall HIV: Anstieg der Diagnosen auch durch Ukraine-Krieg

Bei HIV gibt es eine Besonderheit, wie DSTIG-Präsident Norbert Brockmeyer im Gespräch mit BR24 sagt: "Der Anstieg bei HIV hat sicherlich auch viel damit zu tun, dass wir 2022 eine große Migration aus der Ukraine gesehen haben." Es handele sich dabei oft nicht um neue Diagnosen, sondern um Infektionen, die schon länger bestehen und die in Deutschland einfach noch einmal festgestellt und dann gemeldet würden.

Laut Brockmeyer sollte sich bei HIV der seit 2016 sichtbare Abwärtstrend weiter fortsetzen. "Wir haben eine hervorragende HIV-Therapie, die eine weitere Infektion von anderen verhindert, wenn die Menschen gut therapiert sind."

Neue HIV-Therapien verleiten zu mehr Risikoverhalten

HIV spiele dennoch eine wichtige Rolle, wenn man den rasanten Anstieg der anderen Geschlechtskrankheiten erklären wolle, sagt Christoph Spinner, der am Klinikum rechts der Isar das Interdisziplinäre HIV Zentrum IZAR leitet. "Während vor allem Ende der 1990er-Jahre und zu Beginn der 2000er-Jahre Sexualprävention mit der Angst vor Tod durch AIDS möglich war, hat die heute weitestgehend normalisierte Lebenserwartung durch moderne HIV-Therapien dazu geführt, dass sexuelles Risikoverhalten sich auch wieder verändert hat."

Aber auch verbesserte Diagnostik, mehr Empfehlungen, sich testen zu lassen und das Meldesystem tragen laut dem Mediziner dazu bei, dass die Fallzahlen steigen. "Wir schauen auch genauer hin, und deshalb finden wir auch mehr", erklärt Spinner.

Anstieg wird durch männliche Betroffene angetrieben

Schaut man die Meldedaten genauer an, fällt auf: Der Anstieg der Fallzahlen geht vor allem auf männliche Betroffene zurück. Besonders bei Syphilis ist der Unterschied enorm: Während die Fälle pro 100.000 Frauen fast konstant bleiben, steigen die Fälle pro 100.000 Männern. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung:

Grafik: Entwicklung der Syphilis- und HIV-Fälle nach Geschlechtern

Auch bei Gonorrhoe ist diese große Geschlechterlücke vorhanden – das zeigen eine Auswertung des RKI und Meldedaten aus dem Gesundheitsamt des Bundeslandes Sachsen.

Homo- und bisexuelle Männer häufiger betroffen

Norbert Brockmeyer erklärt diese Entwicklung so: "Syphilis ist schon von Beginn an sehr stark in der männlichen Population vertreten – gerade auch bei Männern, die Sex mit Männern haben." Laut dem Experten spielen dabei einige Komponenten eine Rolle: So gebe es etwa bei Analverkehr ein höheres Risiko, sich zu infizieren als bei Vaginalverkehr.

Auch die Stigmatisierung von sexuell übertragbaren Krankheiten, gerade in konservativen Regionen, sei ein wesentlicher Punkt. "Wo haben wir die meisten Spätdiagnosen bei HIV? In der heterosexuellen Community." Einerseits, weil die Menschen nicht glaubten, dass sie mit HIV infiziert sein können. Andererseits aber auch, weil da es ein Tabu gebe, sich auf HIV testen zu lassen – weil die Leute Angst hätten vor Ausgrenzung und sich schämten.

Hinzu kommt laut Brockmeyer: "Homosexuelle Männer haben in der Regel häufiger sexuellen Kontakt, sexuelle Kontakte mit unterschiedlichen Partnern und gerade auch Kontakte, die ungeschützt sind." Digitale Medien machten es heutzutage zusätzlich einfacher, sexuelle Kontakte zu erreichen.

Auch die Testpraxis spielt eine Rolle

Infektiologe Christoph Spinner bestätigt, dass homo- und bisexuelle Männer häufiger betroffen sind – und entsprechend auch mehr getestet werden. "Für Risikogruppen wie beispielsweise homo- und bisexuelle Männer oder Menschen mit häufig wechselnden Sexualpartnern empfehlen wir heute bis zu dreimonatige Testungen für sexuell übertragbare Krankheiten", sagt der Fachmann. Diese Testpraxis hat also ebenfalls einen Einfluss auf die unterschiedlichen Werte bei Männern und Frauen.

Entwicklung in Großbritannien und den USA anders

Die gezeigte Entwicklung ist laut Norbert Brockmeyer außerdem ganz speziell für Deutschland. In Großbritannien und den südlichen US-Bundesstaaten seien die Syphilis-Fälle in den vergangenen Jahren zwar ebenfalls stark angestiegen. Hier sei aber ein großer Teil der Infizierten heterosexuell – darunter zahlreiche schwangere Frauen, bei denen die Krankheit ein tödliches Risiko für das ungeborene Kind darstellt. "Diese Verhältnisse, die in Amerika bezüglich Schwangerschaft und sexuell übertragbaren Infektionen vorherrschen, sind in Deutschland quasi ausgeschlossen durch die hervorragende Versorgung, die wir haben", sagt Brockmeyer.

Grafik: Bayern springt im Bundesländervergleich auf Platz drei

Im bundesweiten Vergleich lag Bayern lange Zeit im Mittelfeld, was die Fallzahlen von Syphilis anging. Der Nach-Corona-Anstieg katapultierte den Freistaat jetzt auf Platz drei – mehr Fälle pro 100.000 Einwohner gab es 2022 nur in den Stadtstaaten Berlin und Hamburg:

Für Christoph Spinner ist diese regionale Schwankung nichts Ungewöhnliches. "Wir sehen, dass sich Syphilis-Infektionen vor allem auf homo- und bisexuelle Männer in deutschen Großstädten fokussieren", sagt der Mediziner. "Das heißt, dass Länder, die große Ballungsräume aufweisen wie beispielsweise München, Erlangen-Nürnberg oder Würzburg, höhere Inzidenzen zeigen als kleinere Flächenregionen."

Das habe aber nicht nur damit zu tun, dass Infektionen in den Städten häufiger sind. Dort sei auch der Zugang zum Gesundheitswesen, zu Tests für und Medizin gegen sexuell übertragbare Krankheiten viel niedrigschwelliger.

Bayernkarte: Inzidenzen in ländlichen Regionen deutlich niedriger

Die Erläuterung des Infektiologen bestätigt sich auch, wenn man die Meldedaten für Bayern in den einzelnen Regionen anschaut. In einigen Großstädten Bayerns gab es 2022 pro 100.000 Einwohner mehr als zehnmal so viele Syphilis-Fälle als in der ländlich geprägten Oberpfalz:

Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die Menschen in ländlichen Regionen überhaupt nicht mit sexuell übertragbaren Krankheiten anstecken. DSTIG-Präsident Norbert Brockmeyer meint sogar, dass es hier nach Corona einen erhöhten Nachholbedarf gegeben haben könnte. Denn hier hätten die Kontaktbeschränkungen das Sexualleben am stärksten eingeschränkt. "In den Städten hat es häufig doch noch viele kleinere Netze gegeben, wo Sexualität gelebt werden konnte", sagt der Experte. So verwundert es ihn nicht, dass der landesweite Anstieg im Flächenland Bayern besonders deutlich ausfiel.

Geschlechtskrankheiten sind noch immer großes Tabu

Dass man diesen Nachholbedarf nicht in den Inzidenzen der Regionen wiederfindet, hat laut Brockmeyer einen unangenehmen Grund: Die Stigmatisierung von sexuell übertragbaren Krankheiten ist in ländlichen, oft konservativen Gebieten höher. "Es spielt sicherlich eine Rolle, dass die Menschen in kleineren Regionen Hemmungen haben, zu ihrem Hausarzt zu gehen und sich da auf sexuell übertragbare Infektionen testen zu lassen", so Brockmeyer. "So etwas hat man einfach nicht."

Deshalb brauche es dringend mehr Bildung und Aufklärung. Tabus bezüglich Sexualität und sexueller Gesundheit, die laut Brockmeyer aktuell eher zunehmen würden, müssten aufgelöst werden. Es müsse normal sein, dass man sich mit einem Arzt auch über Sexualität und sexuell übertragbare Infektionen unterhält. Und es brauche mehr Anstrengung in den Schulen, damit schon Jugendliche beginnen können, eine gesunde und selbstbestimmte Sexualität zu leben.

Nicht vergessen: Syphilis kann noch immer tödlich enden

Auch für Christoph Spinner vom Klinikum rechts der Isar ist es im Kampf gegen sexuelle Krankheiten entscheidend, dass man entstigmatisierend mit ihnen umgeht. "Wir sehen immer wieder Leidensgeschichten junger und mittelalter Menschen, die zum Teil monatelang auf der Suche nach der richtigen Diagnose mit klassischen Symptomen sexuell übertragbarer Erkrankungen wie Syphilis von Arzt zu Arzt rennen", erzählt der Infektiologe. "Ich glaube, hier können wir durch einen offeneren und freieren Umgang zu einer noch sehr viel besseren Versorgung beitragen."

Man dürfe, so Spinner, nicht vergessen: Syphilis sei bis heute eine todbringende Erkrankung, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt wird. Werde sie dagegen rechtzeitig diagnostiziert und therapiert, kann sie symptom- und folgenlos ausheilen.

Dieser Artikel ist erstmals am 15.12.2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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