Gedrängeforschung
Bildrechte: picture-alliance/dpa

Gedränge auf einem S-Bahn Bahnsteig in München. Szene während des Oktoberfests. Abstandsregeln können hier nicht mehr eingehalten werden.

Per Mail sharen
Artikel mit Video-InhaltenVideobeitrag

Gedrängeforschung: Wie funktioniert Abstand halten in der Masse?

Wie kann es gelingen Menschenmassen zu leiten, wenn gleichzeitig ein Mindestabstand zum Schutz vor Covid-19 eingehalten werden soll? Forscher suchen nach Konzepten, die auch in Corona-Zeiten anwendbar sind.

Über dieses Thema berichtet: Gut zu wissen am .

Überfüllte Bahnhöfe waren in Großstädten vor dem Lockdown ein vertrautes Bild: U-Bahnsteige mit wartenden Menschen, weil Züge ausfielen oder unpünktlich ankamen. Sie brachten Sicherheitskonzepte schon vor Corona an ihre Grenzen.

Noch wird die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmittel von vielen Menschen gemieden, oder sie ist aufgrund von Homeoffice derzeit nicht notwendig. Doch je weiter die Maßnahmen gelockert werden, desto wichtiger werden Konzepte zum Infektionsschutz, auch wenn Massenveranstaltungen wie das Oktoberfest abgesagt wurden. Schnell kann auch im Alltag ein Gedränge entstehen, obwohl enger Kontakt vermieden werden sollte.

Simulationen veranschaulichen Bewegungsströme von Personen

Das öffentliche Leben beginnt langsam wieder und damit die Sorge: Wie können viele Passanten im öffentlichen Raum geleitet werden, wenn dabei der Mindestabstand von 1,50 Meter bewahrt werden soll? Das betrifft nicht nur Plätze wie Bahnhöfe, sondern auch die Infrastruktur von Bürogebäuden. Forscher versuchen bereits seit einigen Jahren mit Simulationen herauszufinden, wie sich Personenströme verhalten und wann ein Gedränge entsteht. Daraus entwickeln sie Sicherheitskonzepte und Fluchtpläne für Großveranstaltungen und öffentliche Gebäude. Nun kommt mit den Corona-Abstandsregeln eine neue Herausforderung hinzu: Wie kann man Bewegungsströme von Personen mit Abstand leiten?

Gedränge mit Corona-Abstandsregeln neu berechnen

Ein Münchner Start-up-Unternehmen befasst sich seit 2014 mit der Simulationen von Personenströme. Die Informatikerin Angelika Kneidl promovierte zu dem Thema, wie Gedränge an bestimmten Engstellen entstehen und Menschen daraus flüchten. Auf dieser Forschungsgrundlage entstanden unterschiedliche Szenarien und Konzepte für Fluchtwege und Sicherheitsmaßnahmen. Nun geht es darum, die Abstandsregelung zum Schutz vor SARS-CoV-2 in den Simulationen einzubeziehen.

"Gerade die Coronakrise hat uns gezeigt, dass die Simulationen eben nicht nur bei dichten Menschenmengen helfen, sondern sie könnte uns eben auch helfen zu schauen: Wie viele Personen können wir denn unter dieser Abstandsregel in einem Raum unterbringen? Also zum Beispiel in einem Bürogebäude, aber eben auch auf Bahnhöfen, damit die Passagiere sicher reisen können." Dr. Angelika Kneidel, accu:rate, Institut für Crowd Simulation
Bildrechte: BR/Gut zu wissen/accu:rate
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Die Simulation zeigt wie sich Menschen in einem Bürogebäude verhalten. An Engstellen ist es schwierig den Mindestabstand einzuhalten.

Verändertes Verhalten von Menschen in der Corona-Zeit

Mit computergestützten Simulationen können die Informatiker Bewegungen von Personenströmen darstellen. Die digitalen Dummys, die sogenannten Avatare, besitzen individuelle Eigenschaften und können sich durch virtuelle Räume bewegen. Ein digitaler Grundriss lässt öffentliche Plätze oder Bürogebäude in die Modellrechnungen einfließen. Die bisherigen Simulationen beruhen auf empirischen Daten. Neu ist, dass die Experten coronaspezifische Verhaltensdaten einbeziehen müssen. Wie reagieren Menschen nun, wenn sich ein Gedränge bildet? Wer geht durch eine enge Tür, wer drängelt und wer weicht aus? Der Corona-Mindestabstand und das Verhalten erfordern neue Berechnungen. Noch ist unklar, ob bisherige Daten dem gerecht werden.

Unglücke bei Großveranstaltungen vermeiden

Aus Massenexperimenten wissen Forscher, wie Gedränge entsteht. Sie sollen helfen Risikoanalysen zu verbessern und Katastrophen zu verhindern. Ergebnisse und Daten der Experimente tragen dazu bei, dass bei Großveranstaltungen ausgefeilte Sicherheitskonzepte beachtet werden, die ein gefährliches Gedränge verhindern. Damit sollen in Zukunft Unglücke wie bei der Loveparade 2010 in Duisburg verhindert werden. Damals starben an einer Engstelle 16 Menschen im Gedränge, fünf Personen erlagen ihren Verletzungen später im Krankenhaus. Über 540 Besucher wurden schwer verletzt.

Einbahnstraßen-Regelung in Corona-Zeiten

Mit dem Konzept Crowd-Management versucht man Personenströme sicher zu lenken, ohne dass sich Druck aufbaut. Empirische Daten liefert ein Massenexperiment des Forschungszentrum Jülich, das 2013 in einer Düsseldorfer Messehalle durchgeführt wurde. Dieses Jahr wollen die Wissenschaftler das Experiment wiederholen und weiter ausbauen. Eine wichtige Erkenntnis ergab sich bereits in der ersten Beobachtung: Fußgänger verhalten sich anders als Autofahrer und lassen sich nicht so einfach durch eine Ampelschaltung steuern. Die Forscher kombinieren nun ihre Ergebnisse mit der Abstandsregel und folgern, dass eine neue Fußgänger-Steuerung helfen könnte Personenströme zu leiten.

"Wir sehen ja im Alltag jetzt schon überall Warteschlangen-Systeme, wie zum Beispiel beim Einlass in Supermärkten. Und ich denke, auch die Forschungsarbeit, über die wir reden, hat etwas mit Warteschlangen zu tun. Das zu beschreiben, was darin passiert, und die Erkenntnisse daraus können uns natürlich auch helfen, Warteschlangen mit einer anderen Zielvorgabe zu planen." Prof. Armin Seyfried, Forschungszentrum Jülich

Öffentliches Leben trotz Abstandsregeln steuern

Forscher hoffen mit dieser Fußgänger-Steuerung, einer sogenannten Einbahnstraßen-Regelung, zusätzlich Wege und Wartezeiten zu verkürzen. Diese Steuerung könnte in Bahnstationen oder Zwischengeschossen verhindern, dass sich Menschen beim Aus- oder Umsteigen kreuzen. Mit diesen Maßnahmen könnte das öffentliche Leben zur Normalität zurückfinden und sicher helfen Gedränge zu vermeiden.