Am 19. Januar einigten sich Bund und Länder auf eine Verlängerung der Corona-Regelungen. Doch treffen diese wirklich die Orte und Umfelder, in denen Menschen sich vermehrt anstecken?
Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) stellte Anfang Januar die Frage, ob es nicht vor allem durch die Schulen eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus gegeben habe. In einem Beitrag der Deutschen Welle dagegen war Ende Oktober zu lesen: "Auch wenn Schulen und Kindergärten eine gewisse Rolle im Infektionsgeschehen spielen, so ist diese jedoch vergleichsweise klein." BR-Wissen-Redakteurin Jeanne Turcynski schrieb am 19. Januar in einem Kommentar: "Auch wissen wir immer noch zu wenig darüber, wo und wie Menschen sich anstecken und wie effizient die beschlossenen Maßnahmen tatsächlich sind, die Datenlage ist mau."
Der Artikel der Deutschen Welle bezog sich explizit auf eine Grafik, die das Robert Koch-Institut (RKI) einmal wöchentlich (immer dienstags) in seinem Covid-19-Lagebericht veröffentlicht. Sie zeigt die Anzahl der "Covid-19-Fälle in Ausbrüchen" pro Kalenderwoche, aufgeteilt nach Infektionsumfeldern. Am 12. Januar sah diese Grafik so aus:
Es handelt sich hier nur um die Infektionen, die einem Ausbruch mit zwei oder mehr Fällen zugeordnet werden können. Aber auch wenn man diese Einschränkung berücksichtigt – die Grafik scheint einige klare Aussagen zu enthalten, die auch im Text des Lageberichts vom 12. Januar genannt werden: "Mit Meldewoche 37 nimmt der Anteil an Ausbrüchen in Alten- und Pflegeheimen kontinuierlich und deutlich zu." Unbekannt scheint das Infektionsumfeld in der vergangenen Woche etwa bei weniger als einem Fünftel der Fälle zu sein.
Darstellung des RKI zeigte Daten zu Infektionsumfeldern ohne Gesamtzahl der Corona-Fälle
Die Daten und vor allem die gewählte Darstellung sind jedoch mit Schwierigkeiten behaftet: So wird im direkten Kontext des Diagramms nicht erwähnt, welchen Anteil die „Fälle aus Ausbrüchen“ an der Gesamtzahl der gemeldeten Infektionen ausmachen. Das steht erst im Fließtext unter der Grafik:
"Nur etwa ein Sechstel der insgesamt gemeldeten COVID-19 Fälle kann einem Ausbruch zugeordnet werden und damit fehlen für eine Vielzahl der Fälle Informationen zur Infektionsquelle."
Dadurch, dass die Fälle, die keinem Ausbruch zugeteilt werden können, in der Grafik des RKI nicht vorkommen, erscheinen die Anteile der einzelnen Umfelder am Infektionsgeschehen größer.
Verzerrte Daten: Bestimmte Infektionsumfelder sind für Gesundheitsämter schwerer zu erfassen
Diese Anteile werden dadurch weiter verzerrt, dass bestimmte Kategorien aufgrund der Erhebungsmöglichkeiten stärker repräsentiert sind als andere. Im Lagebericht vom 12. Januar wird erklärt, "dass Clustersituationen in anonymen Menschengruppen (z.B. ÖPNV, Kino, Theater) viel schwerer für das Gesundheitsamt erfassbar sind, als in nicht-anonymen Menschengruppen (Familienfeiern, Schulklassen, Sportverein etc.)." Studien haben ergeben, dass infizierte Kinder seltener Symptome entwickeln – bei Ausbrüchen in Schulen und Kindergärten wird es daher eine höhere Dunkelziffer geben.
Zur missverständlichen Auffassung der Grafik trägt zudem bei, dass in ihr die Kategorie „unbekannt“ vorkommt. Man kann den Eindruck gewinnen, dass dies eben die Fälle sind, zu denen es keine Informationen bezüglich des Infektionsumfeldes gibt. Tatsächlich sind damit aber nur die Fälle in Ausbrüchen abgedeckt, denen in der Meldesoftware der Wert "unbekannt" explizit zugewiesen wurde.
Aus 16 Prozent der deutschen Landkreise noch immer keine Angaben zu Einzelfällen
Einzelfälle, bei denen Angaben zum Infektionsumfeld gemacht wurden, kommen in der Grafik auch gar nicht vor. Im Oktober berichtete der Tagesspiegel, dass die RKI-Meldesoftware es bis zum Herbst praktisch nicht erlaubte, den Ansteckungsort für einzelne Fälle zu melden - obwohl die Meldungen seit Frühjahr gesetzlich vorgeschrieben seien. Wie das RKI dem BR mitteilte, liegt inzwischen für alle verwendeten Melde-Software-Produkte ein entsprechendes Update vor. Dennoch gäbe es aus 16 Prozent der deutschen Landkreise noch immer keine Angaben zum Infektionsumfeld bei Einzelfällen.
Stellt man die vom RKI gezeigten Fälle in Ausbrüchen zusammen mit der Gesamtzahl der gemeldeten Corona-Fälle dar, ergibt sich für die aktuellen Daten (Stand: 19. Januar) folgendes Bild:
Hier wird deutlich, für welchen geringen Anteil der Gesamtfälle die vom RKI dargestellte Verteilung der Infektionsumfelder gilt. Hinzukommt, dass dieser Datenanteil gerade dann geringer und weniger belastbar wird, wenn die Fallzahlen steigen:
Im Lagebericht vom 12. Januar heißt es: "Bei hohem Arbeitsaufkommen haben die Gesundheitsämter nicht immer die Kapazität, detaillierte Informationen zu Ausbrüchen zu erheben und zu übermitteln." Laut einer Sprecherin des RKI können die Gesundheitsämter seit Monaten wegen der Vielzahl der Fälle und der Vielzahl der Kontakte vieler Fälle eher selten belastbare Informationen zur wahrscheinlichen Infektionsquelle feststellen.
RKI-Darstellung geändert: Gesamtzahl der Corona-Fälle werden als Kontext dargestellt
Auf Anfrage des BR teilte das RKI außerdem mit, dass die Covid-19-Fälle, die von den Gesundheitsämtern einem Ausbruch zugeordnet wurden, eine eigene Kategorie bilden – deshalb sei es korrekt, sie gesondert darzustellen. Aus dem Kontext gehe klar hervor, dass "unbekannt" diejenigen Fälle meine, die einem Ausbruch zugeordnet wurden, aber für die das Gesundheitsamt kein Ausbruchssetting angegeben hat.
Nichtsdestotrotz hat das RKI nach der Anfrage des BR seine Darstellung geändert. Im aktuellen Dienstagslagebericht (19. Januar) wurde zusätzlich eine Grafik eingefügt, die das Größenverhältnis zwischen "Ausbruchsfällen" und der Gesamtzahl der gemeldeten Covid-19-Infektionen zeigt:
Statistikprofessor Helmut Küchenhoff von der LMU München sieht die gesonderte Darstellung der Covid-19-Fälle in Ausbrüchen und die darin enthaltene Aufteilung nach Infektionsumfeldern durchaus als gerechtfertigt an. Er macht jedoch deutlich, dass Dokumentation und Kontext hier sehr wichtig sind. "Die zusätzliche Information in Form der neuen Grafik ist essenziell, um den Zusammenhang dieser Daten verstehen zu können."
"Darüber spricht Bayern": Der BR24-Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick - kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!