Wirecard-Skandal: Die Suche nach den 1,9 Milliarden Euro
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Wirecard-Skandal: Die Suche nach den 1,9 Milliarden Euro

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Wirecard-Skandal: Die Suche nach den 1,9 Milliarden Euro

Wie verschwinden 1,9 Milliarden Euro? Die Spur des Geldes führt nach Manila, über gefälschte Bankbelege zu zweifelhaften E-Mails. Am Ende ist klar, dass es die Milliarden in den Büchern von Wirecard so nie gab. Warum ist das nicht früher aufgefallen?

Eskortiert von der Polizei drängt sich am 4. März 2020 eine Wagenkolonne durch den dichten Verkehr in Manila. Das Ziel: Filialen der beiden philippinischen Banken BDO und BPI. Dort wollen Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young (EY) und KPMG Treuhandkonten des Aschheimer Finanzkonzerns Wirecard einsehen, auf denen 1,9 Milliarden Euro liegen sollen. Organisiert hat die Tour samt Polizeibegleitung der philippinische Anwalt Mark Tolentino. So erzählt es ein Insider.

Der schillernde Rechtsanwalt Mark Tolentino hatte Dezember 2019 die Verwaltung der Wirecard-Treuhandkonten übernommen, die zuvor in Singapur lagen. Die Treuhandkonten waren wichtig für Wirecard, denn vor allem in Asien lief das Geschäft meist über sogenannte Drittpartner. Dabei handelte es sich um drei Firmen, die teils von ehemaligen Wirecard-Managern geleitet wurden: Al Alam in Dubai, Senjo Payments Asia in Singapur und PayEasy Solutions in Manila. Für diese Partnergesellschaften hinterlegte Wirecard Geld auf Treuhandkonten – angeblich als Sicherheit. Machten die Drittpartner bei Zahlungsabwicklungen mit Händlern Verluste, sollten sie entschädigt werden. Seit 2015 sollen sich immer größere Summen auf den Treuhandkonten angesammelt haben: Ende 2019 insgesamt rund 1,9 Milliarden Euro.

Die Spur des Geldes: Von Singapur nach Manila

Genau diese Summe transferiert im Dezember 2019 angeblich der langjährige Treuhänder in Singapur, eine Gesellschaft namens Citadelle Corporate Services, auf sechs Konten in Manila. Das geht aus Kontoauszügen hervor, die dem BR vorliegen. Die Konten hatte der neue Treuhänder Mark Tolentino eröffnet.

Bei einem Treffen mit den angereisten Wirtschaftsprüfern stellt sich Tolentino als Sohn eines ehemaligen Gouverneurs vor. Vor Gründung seiner Anwaltskanzlei sei er stellvertretender philippinischer Transportminister gewesen. Die Übergabe der Treuhandkonten war laut Tolentino vom früheren Treuhänder in Singapur „initiiert“ worden, wie KPMG im bislang geheimen Anhang zum sogenannten KPMG-Bericht vom 27. April 2020 schreibt.

Im Oktober 2019 hatte der Wirecard-Aufsichtsrat KPMG damit beauftragt, eine Sonderuntersuchung auffälliger Geschäfte vorzunehmen. Die Wirtschaftsprüfer von EY nehmen schon seit 2009 regulär die Bilanzen des Zahlungsdienstleisters unter die Lupe. Für Florian Toncar, FDP-Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Wirecard-Untersuchungsausschuss, ist der Treuhänderwechsel ein höchst auffälliger Vorgang:

„Die Verlagerung der angeblichen Treuhandkonten von Singapur auf die Philippinen zu Herrn Tolentino geschah zu einem Zeitpunkt, als KPMG bereits eine Sonderprüfung machte, die exakt dieses Asien- Geschäft und die Treuhandkonnten untersuchen sollte. Es gibt überhaupt keinen erkennbaren Grund, einem solchen Anwalt als Treuhänder 1,9 Milliarden Euro anzuvertrauen. Aus meiner Sicht war der Wechsel des Treuhänders eine Panikaktion.“ Florian Toncar (FDP), Mitglied im Wirecard-Untersuchungsausschuss

Wirtschaftsprüfer stehen mit leeren Händen da

In Manila begleitet Wirecard-Vorstand Jan Marsalek am 4. März persönlich die Prüfer-Gruppe. Marsalek ist für das Drittpartner-Geschäft des Konzerns in Asien zuständig. Die Wagenkolonne hält zuerst vor der Filiale der BDO-Bank in einem Shopping-Center. Dann geht es weiter zu einer Filiale der BPI-Bank, die an einer belebten Straße liegt.

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Die Filiale der BDO-Bank in einem Shopping-Center in Manila.

KPMG notiert dazu später: „Durch Mitarbeiter beider Banken wurde mündlich bestätigt, dass Konten für Mark Kristopher Tolentino geführt werden.“ Die Mitarbeiter versichern, es gebe eine Verbindung zu Wirecard: Die entsprechenden Kontoguthaben würden „für Rechnung von Wirecard gehalten“, heißt es im Anhang zum KPMG-Bericht.

Die Wirtschaftsprüfer von EY beschreiben die Vorgänge in den Filialen in einem bislang nicht veröffentlichten Bericht, mit dem sie Wirecard das Testat für die Bilanz des Geschäftsjahres 2019 verweigern. Darin heißt es, Bankmitarbeiter hätten Briefumschläge an den Treuhänder Tolentino übergeben, „die dieser an Wirecard weiterreichte“. Und weiter: „EY hat um Einsicht gebeten, diese aber nicht erhalten.“

Erst fünf Tage später, am 9. März erhalten die Wirtschaftsprüfer Kopien der Bankauszüge. Dem Bayerischen Rundfunk liegen Auszüge von sechs Treuhandkonten, sogenannten Escrow Accounts, beider Banken vor. Aus den Auszügen ist nicht ersichtlich, wer wirtschaftlich Berechtigter der Guthaben in Höhe von insgesamt rund 1,9 Milliarden Euro ist. KPMG folgert daraus: „Somit konnten wir anhand dieser Kontoauszüge keine Verbindungen zu den ursprünglich (…) verwalteten Escrow Accounts (…) herstellen.“ Letztlich könnten „keine gesicherten Aussagen zur Herkunft der bestätigten Mittel“ getroffen werden.

Gefälschte Bankbelege

Offenbar sind mittlerweile auch die Wirtschaftsprüfer von EY hellhörig. Jahrelang hatten sie alle Bilanzen durchgewinkt, obwohl Börsenprofis und Journalisten längst Zweifel am Geschäft von Wirecard gerade in Asien und im Zusammenhang mit den sogenannten Drittpartnern hatten.

Nun fordern die Prüfer von EY von beiden Bankfilialen zusätzliche Bestätigungen an und machen dafür genaue Vorgaben. Diese Bestätigungen mit Datum vom 16. und 17. März gehen erst per Mail und am 30. März auch per Kurier bei EY in der Münchner Arnulfstraße ein. Dem BR liegen die Bestätigungen vor. Auffällig: Obwohl es um insgesamt 1,9 Milliarden Euro geht, tragen die Schreiben nur die Unterschriften von Filialmitarbeitern. Das Schreiben der BDO-Filiale ist unterzeichnet vom Filialleiter und einem „Assistent Junior Manager“. Damit bestätigen beide, dass der Treuhänder Mark Tolentino für Wirecard drei Konten bei der Bank führt. Kontostand: Mehr als 1,1 Milliarden Euro. Für die BPI-Filiale unterschreibt ein „Assistent Manager“, dass auf drei Konten rund 814 Millionen Euro liegen.

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Zweifelhafte Bankbelege: BDO

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Zweifelhafte Bankbelege: BPI

Offensichtlich wachsen daraufhin die Zweifel bei EY. Die Prüfer fordern, dass die Filialmitarbeiter Unterschriftenproben abgeben. Treuhänder Mark Tolentino organisiert am 24. April eine Videokonferenz, bei der die Filialmitarbeiter ihre Ausweise vorzeigen und Unterschriften leisten müssen.

Zudem verlangt EY als Beleg dafür, dass das Geld tatsächlich existiert und Wirecard zur Verfügung steht, Testüberweisungen: viermal je 110 Millionen Euro auf Wirecard-Konten. Ende Mai fragt EY nach, wo die 440 Millionen bleiben. Doch das Geld kommt nie an.

Nach Monaten des Zuwartens treten die Prüfer offensichtlich erst jetzt an die zentrale Verwaltung der beiden Banken heran. Daraufhin informieren beide Banken EY am 16. Juni und 17. Juni, dass die Bestätigungen der Filialen gefälscht seien.

Jan Marsalek: "Leider werden wir alle ein wenig nervös"

Jetzt tritt Jan Marsalek per E-Mail selbst in Kontakt mit Mark Tolentino, dem Treuhänder auf den Philippinen. Im Zuge der Recherchen können BR-Reporter diesen E-Mail-Verkehr einsehen. So schreibt Jan Marsalek am 17. Juni: „Lieber Mark, EY hat uns heute Abend informiert, dass sie mündliche Stellungnahmen erhalten haben (…), dass die Treuhandkonten nicht existieren.“ Der Treuhänder antwortet: „Lieber Herr Jan, (…) ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor.“ Später am Tag werden Marsaleks E-Mails dringender: „Lieber Mark, leider werden wir alle ein wenig nervös. Seit Ihrem letzten schriftlichen Update sind drei Stunden vergangen und der Tag auf den Philippinen nähert sich dem Ende. Haben Sie irgendwelche Nachrichten für uns?“

Der Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi, der für die Linken-Bundestagsfraktion im Wirecard-Untersuchungsausschuss sitzt, hat den E-Mail-Verkehr eingesehen: „Das wirkt ja unfassbar naiv. Und das kaufe ich Jan Marsalek nicht ab. Ich glaube, er hat diese Emails geschrieben, um Zeit zu gewinnen, um seinen Exit, sein Untertauchen vorzubereiten und um vorzutäuschen, dass hier noch alles in Ordnung wäre, weil ihm irgendwelche Leute im Nacken saßen, die gesagt haben: Wir brauchen jetzt Unterlagen oder Dokumente.“

Doch die angeblichen Belege gibt es nicht. Am 18. Juni informiert Wirecard die Öffentlichkeit, dass es keinen Nachweis für die Existenz der Treuhandkonten gibt. Kurz darauf setzt das Unternehmen Jan Marsalek vor die Tür. Der langjährige Vorstand, dem glänzende Geheimdienstkontakte nachgesagt werden, flüchtet und wird bald mit internationalem Haftbefehl gesucht. Vorstandschef Markus Braun tritt zurück. Er und weitere Beschuldigte sitzen mittlerweile in Untersuchungshaft. Ihnen wirft die Staatsanwaltschaft München unter anderem „gewerbsmäßigen Bandenbetrug“ vor. Am 25. Juni meldet Wirecard als erster Konzern in der Geschichte des DAX Insolvenz an.

Geld weg, viele Fragen zu Wirecard bleiben

Der Auslöser der Insolvenz, die fehlenden 1,9 Milliarden Euro, wirft bis heute Fragen auf: Hat die Summe oder ein Teil davon jemals existiert? EY schreibt am 22. Juni an den ehemaligen Treuhänder in Singapur, er möge den Stand der Treuhandkonten zum Ende des Geschäftsjahres 2018 nochmals bestätigen. Die Prüfer schicken dem Treuhänder seine damalige Bestätigung mit. Doch der antwortet: “Bitte nehmen sie zur Kenntnis, dass dies kein Brief von mir ist und nicht mein Briefkopf. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir keine solchen Konten halten und auch nie bestätigt haben. Unser letzter Treuhand-Service für Wirecard endete im März 2017.“

Mittlerweile steht der ehemalige Treuhänder in Singapur vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft des Stadtstaates wirft ihm vor, Kontostände für Treuhandkonten falsch angeben zu haben. Anhängig sind insgesamt elf Verfahren. Alle beziehen sich auf die Jahre 2015 und 2016. Hat der Treuhänder seit März 2017 tatsächlich nicht mehr für Wirecard agiert? Und wenn ja, warum ist das den Wirtschaftsprüfern von EY nicht aufgefallen?

Zu offenen Fragen will sich der Wirtschaftsprüfer nicht äußern. Auf BR-Anfrage schickt EY lediglich eine Pressemitteilung vom 15. September 2020. Darin heißt es: "Nach unserem derzeitigen Erkenntnisstand haben unsere Kollegen die Prüfungshandlungen professionell und nach bestem Wissen und Gewissen durchgeführt."

Die Aufsichtsbehörde für Wirtschaftsprüfer (APAS) hingegen wirft EY vor, gegen berufsrechtliche Pflichten verstoßen zu haben. Bei der Kontrolle der Wirecard-Bilanzen von 2015 bis 2017 seien EY schwere Fehler unterlaufen, glaubt die APAS. Die Aufseher haben deshalb Strafanzeige gegen mehrere EY-Prüfer gestellt. Anfang Dezember 2020 nahm die Staatsanwaltschaft München I Ermittlungen gegen Verantwortliche bei EY auf.

Dieser Artikel erschien erstmals am 7. Dezember 2020 auf BR24. Am Donnerstag, den 8. Dezember 2022, beginnt in München der Strafprozess u.a. gegen den ehemaligen Wirecard-Vorstandschef Markus Braun. Um die Hintergründe noch einmal zu erklären, veröffentlichen wir im Vorfeld ausgewählte Artikel zum Wirecard-Skandal erneut.

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