Therapiesitzung
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Ergotherapeut Victor Schmid übt mit Sebastian Bettenhausen das Greifen in den Einrichtungen der "Helfende Hände" in München.

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Personalnot: Behinderte leiden, Gesellschaft zahlt drauf

In den therapeutischen Einrichtungen des Münchner Vereins "Helfende Hände" fehlt Personal. Für die mehrfach behinderten Menschen sind Therapien lebensnotwendig. Für die Gesellschaft kann das einen hohen Preis kosten, sagt der Behindertenbeauftragte.

Über dieses Thema berichtet: Notizbuch am .

Sebastian Bettenhausen ist 30 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl und hat einen Luftröhrenschnitt. Seit seiner Geburt kann Sebastian nicht sprechen und nicht gehen, auch seine Koordination und Motorik sind beeinträchtigt. Rund um die Uhr benötigt er Betreuung und Pflege. Heute behandelt ihn Ergotherapeut Victor Schmid in der gemeinnützigen GmbH "Helfende Hände". An zwei Standorten in München bietet sie verschiedene Einrichtungen für Menschen mit komplexen Behinderungen.

Als Ergotherapeut verdient Victor Schmid nicht so viel wie manch andere in anderen Berufen. Die Arbeit mit Menschen mit Behinderung bedeutet ihm mehr als das rein Finanzielle, am Ende jedes Arbeitstages, sagt er. "Wenn man einfach gemerkt hat, man kann diesen Menschen jetzt helfen und das ist eine größere Hilfe als alles andere, was man sich vorstellen kann. Das ist großartig."

Bayern: Über eine Million Menschen mit Schwerbehinderung

Ende 2021 haben nach Angaben des Statistischen Landesamts fast 1.160.000 Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung – das heißt mit einer Behinderung ab dem Grad 50 – in Bayern gelebt. Die gemeinnützige GmbH und der Verein "Helfende Hände" unterstützen 160 von ihnen aus München und dem Umland.

Hilfe für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen

Dafür ist Beate Bettenhausen sehr dankbar. Sie ist die Mutter von Sebastian und sitzt im Vorstand des Vereins, der als Elterninitiative im Jahr 1969 gegründet wurde. Die tägliche Therapie ist für ihren Sohn lebenswichtig. Über Jahre hat Sebastian Grundlegendes, oft mühsam gelernt, zum Beispiel Schlucken, sprich sich nicht zu verschlucken oder auch das Greifen von Gegenständen, das Sebastian an diesem Tag mit seinem Ergotherapeuten trainiert. Ihr Sohn kommuniziere mit Ja und Nein-Karten. Dafür sei es zentral, dass er den Arm heben kann und diese Karte ergreifen kann, sagt Beate Bettenhausen.

Behindertenbeauftragter: Personalmangel in Pflege und Eingliederungshilfe

Rund 22 Therapeutinnen und Therapeuten kümmern sich bei den "Helfenden Händen" um die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Doch wie in vielen anderen Einrichtungen sind das nicht genug. In der Pflege und der Eingliederungshilfe fehlt vor allem Assistenzpersonal, bestätigt Holger Kiesel, Behindertenbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung. Überall herrsche Personalmangel und der Höhepunkt sei noch nicht erreicht. "Das wird noch schlimmer werden", prognostiziert Kiesel.

Behindertenbeauftragter: Menschen mit Behinderung "empowern"

Daher sucht er nach Alternativen, nach Möglichkeiten, den Personalmangel zumindest etwas abzufedern. Sein Vorschlag ist "Menschen mit Behinderung zu empowern, wie man heute so schön sagt". Das bedeutet, ihnen die Möglichkeit zu geben, in allen Lebensbereichen so selbstbestimmt wie möglich zu leben. "Alles, was ein Mensch mit Behinderung selbst kann, dafür braucht er niemanden. Dafür brauchen wir also kein Personal."

Holger Kiesel sieht einen weiteren Vorteil: Wenn die Barrierefreiheit stimmt, wenn ein Mensch mit Behinderung gestärkt wird, sodass er möglichst viel selbstständig tun kann, wie sich fortbewegen, kommunizieren oder Dinge durch leichte Sprache besser verstehen, dann kann er sich aktiv an der Gesellschaft beteiligen und ihr auch etwas zurückgeben. Er könne trotz Erkrankung etwas erwirtschaften und konsumieren. "Alle diese Dinge sind ja ein Teil unserer Marktwirtschaft und Teil unseres Kapitalismus. Wenn wir sie mit Sozialleistungen stützen müssen, ist damit der Gesamtgesellschaft ja nicht geholfen", erklärt Kiesel.

Behindertenbeauftragter: Mehr inklusive Wohngemeinschaften schaffen

Eines der Ziele von Holger Kiesel ist, in Bayern mehr Wohngemeinschaften zu schaffen, in denen Menschen mit und ohne Behinderung zusammenleben. Momentan gibt es einige solcher Projekte, aber das sei noch ausbaufähig. Die meisten beeinträchtigten Menschen leben in Einrichtungen, in denen sich Pflegekräfte und Therapeuten um sie kümmern.

Statistik: Mehr Behinderten-Wohneinrichtungen, aber weniger Plätze

Inzwischen gibt es in Bayern wieder mehr solcher Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung als noch in den vergangenen Jahren. Nach aktuellen Angaben des Statistischen Landesamtes waren es 754 im Juli 2022. Zwar ist die Zahl der Einrichtungen gestiegen, dadurch gibt es aber nicht mehr Wohnplätze. Das liegt laut dem Sozialverband VdK daran, dass die neuen Einrichtungen vor allem kleiner sind.

Ein weiteres, zunehmendes Problem, das hier mitspielt, ist der Personalmangel in der Heilpädagogik, Pflege und Erziehung. Er reicht laut VdK so weit, dass in manchen Kommunen einzelne Gruppen oder ganze Einrichtungen geschlossen werden müssen, weil Mitarbeitende fehlen.

Das bestätigt auch Rainer Remmele, Vorstandsvorsitzender der Regens-Wagner-Stiftungen, auf BR24-Anfrage. Oft bliebe dann nur die Möglichkeit, dass die betagten Eltern ihre erwachsenen Kinder wieder nach Hause nehmen, um sie dort zu betreuen, erklärt der VdK. Für Menschen mit Behinderung kann das bedeuten, dass sie ihr selbst bestimmtes Leben wieder aufgeben müssen.

Eingliederungshilfe: Personalmangel in allen Bereichen

Insgesamt suchen die 14 regionalen Einrichtungen der Regens-Wagner-Stiftungen laut Rainer Remmele nahezu in allen Bereichen neue Mitarbeitende, von der Verwaltung über die Hauswirtschaft bis zur IT.

Besonders gefragt in der Eingliederungshilfe der Regens-Wagner-Stiftungen sind aber vor allem sogenannte Heilerziehungspfleger. Dieser Beruf sei vergleichbar mit dem des Erziehers in der Kinderbetreuung, er habe aber eine geringe Wertschätzung in Politik und Gesellschaft, sagt Rainer Remmele. Die Assistenz von Menschen mit Behinderung finde nicht die gleiche gesellschaftliche Anerkennung wie die Betreuung und Pflege von Kindern. Das würde die Suche nach Fachpersonal erschweren.

Therapie für Menschen mit Mehrfachbehinderungen in Ausbildung nicht behandelt

Für Kathrin Wenz von der gemeinnützigen GmbH "Helfende Hände" in München ist es ebenfalls schwer, neue Therapeutinnen und Therapeuten zu finden. Das liegt vor allem daran, dass in den Ausbildungen zum Ergo- oder Physiotherapeuten oder in der Logopädie Menschen mit komplexen Behinderungen "einfach nicht behandelt werden", erklärt Wenz. "Die fallen im Lehrplan hinten runter. Deswegen kennen ganz wenige Leute, die diesen Beruf wählen, überhaupt unser Klientel."

Neue Kolleginnen und Kollegen sucht sie vor allem auf den Berufsschulen in und um München. Interessierte Auszubildende können zum Beispiel innerhalb ihrer dreijährigen Ausbildung Station bei den "Helfenden Händen" machen.

Ergotherapeut Victor Schmid hat bereits sein Freiwilliges Soziales Jahr bei den "Helfenden Händen" absolviert. Nach seiner Ausbildung zum Ergotherapeuten ist er zurückgekommen und arbeitet seit 2021 in den Einrichtungen. Der Job bedeutet ihm sehr viel, "weil ich gemerkt habe, dass ich wirklich die Lebensqualität von Menschen nachhaltig verbessern kann, mit ganz einfachen Sachen."

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