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Gérard Grisey

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Wenn die Notenblätter reißen: Klangforscher Gérard Grisey

Nicht mal Musikexperten können genau erklären, was das eigentlich ist: Spektralmusik. Sie war die Leidenschaft von Gérard Grisey (1946 - 1998). Im Münchener Herkules-Saal war das zentrale Werk "Les Espaces Acoustiques" zu hören. Von Peter Jungblut.

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Am Ende streckt ein Musiker ganz langsam seine Arme aus, als ob er einen gewaltigen Becken-Schlag vorbereitet - so gewaltig, dass der Zuhörer unwillkürlich seine Ohren schützen will. Aber dann folgt nur Stille: Statt die beiden Metallscheiben donnernd gegeneinander zu schlagen, lässt der Instrumentalist die Arme wie erschöpft sinken. Komponist Gérard Grisey ließ sich also ein bemerkenswertes Ende von "Partiel" (1975) einfallen. Keine bizarre Laune, kein absurder Effekt, sondern Zeichen seines Haderns mit Musik überhaupt. Der Klangforscher und Wegbereiter der "Spektralmusik" rang zeit seines Lebens um den Ton an sich, analysierte ihn mit Hilfe von Sonogrammen, zerlegte ihn, tastete ihn aus und brachte seinem Publikum diese mühselige Arbeit zu Gehör. Dazu gehörte die Unmöglichkeit, ein Ende zu finden, denn jeder Ton lässt sich beliebig lang "ausschreiten", in diesem Fall das tiefe "E" der Posaune.

Grenzen des Hörens

Bewundernswert, wie konzentriert das Publikum im Münchener Herkules-Saal beim musica-viva-Wochenende des Bayerischen Rundfunks dieses Hör-Experiment verfolgte. Musiker reiben Styropor aneinander, rascheln mit Aluminium und den überdimensionalen Notenblättern, bis diese reißen. Ein halb verzweifelter, halb humoristischer Kampf um den Klang. Was macht ihn aus? Was unterscheidet ihn vom Geräusch? Wo liegen die Grenzen des Hörens? Immer wieder lauscht der gebannte Zuhörer in den Saal: War da was? Woher kommt jenes leise Rauschen? Eine akustische Täuschung? Ließ jemand etwas fallen oder war das Absicht? Grisey arbeitete elf Jahre an seinem großen Werk, den "Akustischen Räumen", von 1974 bis 1985.

Ton-Archäologie mit Entdeckerfreude

Es beginnt mit einem Viola-Solo, "Prologue" (1976), fesselnd gespielt von Benedict Hames. Es ist, als ob das Instrument nach 10 000 Jahren im Eis ganz allmählich wieder zu sich findet. Vorsichtig scheinen die Saiten zu überprüfen, ob sie noch leben. Der Bogen fährt ganz allmählich nach oben und unten, als ob er überrascht ist, Töne hervor zu bringen. Das ist fundamentale Klang-Arbeit, Ton-Archäologie. Es erinnert an Ausgräber, die mit kleinen Pinseln in einer Grube stehen und winzige Artefakte freilegen - mühselig, kenntnisreich, voller Entdeckerfreude.

"Musique liminale" nannte Grisey selbst seine Art von Tonkunst, wörtlich "Schwellenmusik", und das ist mehrdeutig zu verstehen. Diese Klänge gehen an die "Schwelle" des Hörens überhaupt, sind aber auch als "Schwelle" von der seriellen Musik, die die Nachkriegszeit dominierte, zu etwas völlig Neuem zu interpretieren.

Abenteuer für das Publikum

Manchmal können ja Zweifel aufkommen, ob die Musik überhaupt noch an eine Zukunft glaubt, so statisch, wie die Spielpläne der Opernhäuser und Konzertveranstalter wirken. Selbst 100 Jahre alte Stücke werden mitunter noch als "zu neu" abgelehnt. Gemessen daran, ist es ein großes Verdienst der "musica viva", mit Gérard Grisey einen Künstler zu ehren, der entschlossen aufbricht in unerforschtes Gelände und seinem Publikum lauter Abenteuer beschert.

Weiteres Konzert mit Gérard Grisey-Werken am Sonntag, 18. März, 11.30 Uhr, BR Funkhaus Studio 1