ARCHIV - 20.03.2019, Nordrhein-Westfalen, Köln: Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, aufgenommen vor einer Lesung auf der Lit. Cologne, dem internationalen Literaturfest. Wenn am 06.10.2022 der wohl wichtigste Literaturpreis der Erde vergeben wird, schaut die Welt für einen Augenblick Richtung Stockholm. Mögliche Kandidaten für den Literaturnobelpreis gibt es wieder viele - darunter Ernaux. (zu dpa "Literaturnobelpreis-Bekanntgabe steht an") Foto: Horst Galuschka/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Bildrechte: dpa-Bildfunk/Horst Galuschka

Annie Ernaux

Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Literaturnobelpreis geht an Annie Ernaux aus Frankreich

Der Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr an die französische Schriftstellerin Annie Ernaux. Das gab die für den Preis zuständige Schwedische Akademie am Nachmittag in Stockholm bekannt. Die Feministin beeindruckt durch ihre Ernsthaftigkeit.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Dass sie viel lacht, fand der Berichterstatter der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" bei einer Begegnung mit Annie Ernaux bemerkenswert. Grund dafür: die französische Autorin, geboren 1940 in der Normandie, beschäftigt sich als Feministin in ihren Werken mit sehr ernsten Themen wie Abtreibung und Armut, und zwar in einer eher minimalistischen, sehr direkten, mitunter "drögen" Sprache.

Nobelkomitee erreichte sie zunächst nicht

"Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, wurden sie nicht vollendet, bloß erlebt", heißt es in der Erzählung "Le Jeune Homme" (Der junge Mann), wo von einer Frau um die fünfzig berichtet wird, die sich in einen Dreißigjährigen verliebt. Ganz nebenbei werden zahlreiche Themen abgehandelt, die Frankreich bewegen, bis hin zur Frage, ob Frauen in "Ganzkörperbadeanzügen" der Besuch öffentlicher Schwimmbäder erlaubt sein soll.

Das Nobelkomitee erreichte Annie Ernaux übrigens zunächst nicht, als ihr der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde. Wer weiß, auf welchen Wegen sie davon erfahren hat. Ganz unerwartet kann sie die frohe Botschaft nicht ereilen, denn auch in deutschen Medien, etwa der "Süddeutschen Zeitung", war sie längst als preiswürdig genannt worden: "Verdient hat sie ihn, und in Paris sind sich viele sicher, dass es klappt, weil es klappen muss. Wenn man die Autorin selbst danach fragt, ob all der Erfolg im Alter nicht doch etwas überraschend kommt, verneint sie ungerührt und ohne Bescheidenheitsgetue: Sie wusste, dass sie gut schreibt und auch, dass ihre Literatur Erfolg haben würde."

"Mut und klinische Schärfe"

In der Würdigung der Stockholmer Jury heißt es, Ernaux bekomme die Auszeichnung "für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt".

Ernaux stammt aus einfachen Verhältnissen, ihre Eltern betrieben ein kleines Ladengeschäft. Ihren erstes Buch veröffentlichte sie 1974, den autobiografischen Roman "Das Ereignis" (Les armoires vides) über eine Abtreibung im Oktober 1963, also zu einer Zeit, als das Thema nicht nur im katholischen Frankreich noch völlig tabuisiert war. Auf Deutsch erschien das schmale Buch, dass von Kritikern als "Kampfansage an Geschlechterklischees" bezeichnet wurde, 2021 beim Suhrkamp-Verlag.

"Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie es war, als die Abtreibung noch illegal war", so Ernaux in einem Interview: "Niemand half dir, weder die Ärzte noch die Freunde oder die Familie, alle schauten weg. Das war ein Gefühl von immenser Einsamkeit. Es war, als wäre eine Betonwand vor mir hochgezogen, als stünde ich vor dem Gesetz, das sagt: Hier geht es nicht weiter. Ich hatte ja auch kein Geld, um in die Schweiz zu gehen, wie es betuchtere Mädchen damals taten."

"Abgrund erkunden"

Wenn man versuche, seiner ursprünglichen Klasse zu entkommen, so wie sie, frage man sich oft, worüber man "stolpern" werde: "Als ich erfuhr, dass ich schwanger war, schien es mir plötzlich ganz klar: Es würde mein Körper sein, er würde mich ausbremsen." Doch das nahm Ernaux nicht ihren Willen zur Selbstbestimmung.

"Ich konstruiere keine Romanfigur", sagte Ernaux einmal: "Ich dekonstruiere das Mädchen, das ich gewesen bin. Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt." Der Roman "Das Ereignis" wurde von Regisseurin Audrey Diwan erfolgreich verfilmt und bei den Filmfestspielen in Venedig im vergangenen Jahr mit einem "Goldenen Löwen" prämiert.

"Geschmack und Farben jener Jahre"

Bei den Filmfestspielen in Cannes war in diesem Jahr eine Dokumentation über das Leben von Annie Ernaux zu sehen, zusammengesetzt aus privaten Super-8-Filmen, die ihr Ehemann in den Jahren 1972 bis 1981 aufgenommen hatte; "Ich wollte diese stummen Bilder in eine Geschichte einbinden, die das Intime mit dem Sozialen und mit der Geschichte verbindet, um den Geschmack und die Farben jener Jahre zu vermitteln", so die Autorin.

Auch in ihrem Roman "Erinnerung eines Mädchens" (2016) blickte sie auf ihr eigenes Leben zurück und beschrieb erste sexuelle Erfahrungen im Sommer 1958: "Das große Gedächtnis der Scham ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere. Es ist im Grund die besondere Gabe der Scham."

"Blick der anderen verursacht Scham"

Zum Schreiben fühlte sich Ernaux am Beginn ihrer Karriere von zwei für sie ganz besonderen Büchern inspiriert, Klassikern der Emanzipations-Literatur: "Das zweite Geschlecht" von Simone de Beauvoir und "Die feinen Unterschiede" des Soziologen Pierre Bourdieu: "Der Blick der anderen verursacht die Scham. Und dieser Blick ist mächtig. Man wird immer betrachtet. Und man wird immer beurteilt. In den Augen der anderen Menschen gilt man entweder als gleichwertig. Oder als überlegen. Oder als minderwertig. All unsere sozialen Beziehungen ordnen uns einem Oben oder Unten zu."

Ernaux gilt der Mehrheit der Kritiker als eine wichtigsten Stimmen und "Grande Dame" der französischen Gegenwartsliteratur. Diejenigen, die ihr die "Ausbeutung des Elends" vorwerfen, sind in der Minderheit.

Der Literaturkritiker Denis Scheck hielt die Vergabe des Literaturnobelpreises an die französische Schriftstellerin für eine rundum gute Entscheidung. Es handle sich um einen "Festtag für die Literatur", sagte Scheck der Deutschen Presse-Agentur. Sowohl in ästhetischer als auch in politischer Hinsicht sei die diesjährige Entscheidung "eine beglückende Wahl".

Annie Ernaux erhält den Literaturnobelpreis
Bildrechte: BR
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Die Französin Annie Ernaux wird mit dem Literaturnobelpreis 2022 ausgezeichnet.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!