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"Im Sommer": Neue Schambohrungen von Karl Ove Knausgård

Er ist der Vater vierer Kinder und seit seinem autobiografischen Romanzyklusʼ "Mein Kampf" weltbekannt: der Norweger Karl Ove Knausgård. Jetzt liegt mit "Im Sommer" auch der letzte Band seines Jahreszeiten-Zyklus auf Deutsch vor. Von Knut Cordsen

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Klar, es gibt diejenigen, die das, was Karl Ove Knausgård schreibt, als "poetischen Mamablog“ bezeichnen. So hieß es in einer Kritik über das Vorgängerwerk "Im Frühling", und so zitiert es der Norweger nun im abschließenden Band "Im Sommer". Was ja erst einmal ein Zeichen großer Souveränität ist: negative Rezensionen nicht etwa zu verschweigen, sondern sie demonstrativ anzuführen. Wer aber derart detailverliebt seinen Alltag als Vater eines Sohnes und dreier Töchter beschreibt - das Wickeln der Jüngsten, das Zubett-Bringen, das Hin- und Herchauffieren der Kinder, zur Musical-Probe, zu Freunden, zum Schulbus - der muss sich die Frage gefallen lassen, ob diese aus lauter Wiederholgen bestehende Dokumentation Kunst ist. Mehr noch, wer ausführlich beschreibt, wie er den Rasen mäht, sprengt und im Garten seines "Sommerhauses" in Glemmingebro (Schonen) immer wieder Unkraut zupft, der darf auf Feuilleton-Sprachspielereien à la "Sommerhaus, Jäter" rechnen.

Knausgård reflektiert über Heideggers Penis

Ja, es ist leicht, sich über Knausgård lustig zu machen. Zumal er selbst hier "Im Sommer" jeder Ironie so abhold ist und notiert: "Ironie ist Abstand, das Gegenteil von Einfühlung und Präsenz." Die größte Ironie dieses Schriftstellers besteht nach wie vor darin, dass er, "der Probleme mit Nähe hat", wie kein anderer lebender Autor die Leser an sich und sein Intimstes, sein Privatleben herankommen lässt. Das geht so weit, dass er sich über die Größe seines Penis Gedanken macht: "So klein ist er doch auch gar nicht? Ist er nicht eigentlich ziemlich durchschnittlich? Vielleicht sogar ein bisschen größer?“ Woran sich dann der durchaus komische Satz knüpft: "Ich kann mir kaum vorstellen, dass Heidegger über die Größe seines Penis geschrieben und sich Gedanken darüber gemacht hätte, wie sie dazu beigetragen hatte, sein Selbstbild zu formen, und ... dass er ein öffentliches Bad nicht betreten konnte, ohne unverzüglich die Penisse der anderen Männer zu mustern, wie lang sie waren, und sobald er jemanden mit einem Penis sah, der länger war als seiner, von Neid zerfressen wurde. Aber das tue wie gesagt ich." Wie jetzt, Martin Heidegger? Von dem er im Band "Im Herbst" freimütig zugibt, ihn nicht zu verstehen (womit er wahrlich nicht alleine ist). Wie kommt Knausgård beim Blick auf sein Geschlechtsteil auf den Philosophen des "Ge-Stells"? Man weiß es nicht. Fest steht aber, dass jener Heidegger in seinem Hauptwerk "Sein und Zeit" von der "Flucht in das Zuhause der Öffentlichkeit" schreibt. Eine ebensolche Flucht in das Zuhause der Öffentlichkeit ist das Schreiben des Karl Ove Knausgård. Es ist eine Flucht in die "Freistatt" der Literatur, wie der Autor das nennt. Und die hat, wie man an der Penis-Episode wohl am besten zeigen kann, extrem viel mit „brennender Scham" zu tun.

"Im Sommer": Berührend, banal, radikal und haarsträubend

Denn er ist und bleibt der große Selbstzerknirscher auch in diesem Buch, ein Schambolzen durch und durch: So oft suchen ihn Scham- und Schuldgefühle heim, so sehr hat er Aksel Sandemoses für den skandinavischen Kulturraum so prägendes "Jante-Gesetz" verinnerlicht, dessen erstes Gebot lautet: "Du sollst nicht glauben, dass du etwas Besonderes bist." Kein anderer lebender Autor dürfte diesen Dekalog der Demut so in sich aufgesogen haben wie dieser zum Zeitpunkt der Niederschrift 47-jährige Karl Ove Knausgård, Vater eines achtjährigen Sohnes und dreier Töchter, deren jüngste Anne heißt und zu der Zeit, da "Im Sommer" spielt, zwei Jahre alt ist.

Dieser Tochter ist dieses berührende, banale, mitreißende, radikale und haarsträubende Buch, dem drei ganz ähnlich konzipierte Jahreszeiten-Bände vorausgegangen sind, gewidmet: Ein Vater will für seine Tochter das Familienleben festhalten, jene Zeit, die sie noch nicht bewusst miterleben kann, an die sie selbst nie Erinnerungen haben wird. Also erzählt er ihr davon, welche Sätze die ersten sind, die sie sagt, was ihre Geschwister treiben und wie er dann spätabends über all diese Dinge schreibt, von denen er selbst am besten weiß, dass es Trivia sind, Belanglosigkeiten. Trotzdem erwischt man sich als Leser auch diesmal wieder dabei, dass man nicht aufhören kann, Knausgård dabei zu beobachten, wie der seine Kinder vor dem Smartphone oder auf dem Trampolin im Garten beobachtet, wie er Kaffee kocht, raucht und sich wie jeder Vater um die Zukunft seiner Kinder sorgt.

Die Leerstelle "Im Sommer": Knausgårds Frau

Eine seltsame Leerstelle in diesem Buch bildet einmal mehr (wie schon in den vorhergehenden Bänden) seine Frau, die nahezu abwesende Mutter Linda Bostrøm-Knausgard, eine Schriftstellerin auch sie. Mal ist sie auf dem Weg zu ihrem Literaturagenten in Kopenhagen, mal sitzt sie stumm am anderen Ende ihres Hauses in Schonen und schaut sich einen Film auf dem Computer an. Da kein anderer Schriftsteller sein Privatleben derart ausstellt vor aller Öffentlichkeit, weiß der geneigte Knausgård-Leser: Wenige Monate nach dem hier beschriebenen Sommer 2016 reichte sie die Scheidung ein. Nachzulesen bei Wikipedia.

Es mag angesichts dessen verwunderlich wirken, ein Buch des Ehepaars Sophia und Nathaniel Hawthorne in Erinnerung zu rufen: "Ordinary Mysteries" (auf Deutsch unter dem Titel "Das Paradies der kleinen Dinge" erschienen mit einem Vorwort von Knausgårds großem Vorbild Peter Handke), ein Tagebuch der Frischverheirateten, in dem sie von all dem berichten, was auch Knausgård beschäftigt: von der Arbeit im Garten auf ihrem ländlichen Anwesen ebenso wie von der genauen Betrachtung alltäglichster Verrichtungen, Erscheinungen und Gegenstände, aus der stets Erkenntnis erwachsen soll. Nicht immer geschieht das, wenn Knausgård etwa der Eiscrème, den Makrelen, deren Einzug an der Küste den Sommer ankündigt, oder den Erdwespen seine Aufmerksamkeit schenkt.

Aber das sieht man ihm erstaunlicherweise nach, denn gleich darauf schildert er mit großer Meisterschaft eine Szene aus seiner eigenen Kindheit in den 1970-er Jahren oder lässt sich über sein Konzept der "poetischen Wahrheit" aus und beschreibt auf sehr amüsante Art und Weise einen Besuch im Atelier des Malers Anselm Kiefer ("ah, wir haben Besuch von einem Wikinger!"), der bemerkenswert farbenfrohe Aquarelle zu diesem Buch beisteuert: Der Künstler radelt im blauen Overall durch seine riesigen Werkshallen und stellt sich als Helikopter-Künstler vor, der mit eigenem Hubschrauber fliegt, wohin es ihn gelüstet: nach Portugal, London oder in die Provence. Dass ein anderer Großer, der Fotograf Jürgen Teller, kürzlich bei Knausgård zu Gast war, erfährt man en passant. Eine Angeberei, für die er sich gleich wieder schilt, genauso wie für die prahlerische Bemerkung beim Grillen mit Freunden, die Lesereise durch Indien habe er jetzt doch abgesagt. Sein Kampf, schreibt Knausgård, sei seit seinem dreizehnten Lebensjahr "der Kampf gegen die Scham". Und so "unendlich egozentrisch" und "eingesperrt in mir selbst", wie er sich zu sein hier attestiert, nimmt es gar nicht Wunder, dass sich weite Teile dieser neuerlichen Autofiktion wie eine Fortsetzung seiner Hexalogie "Mein Kampf" lesen.

Karl Ove Knausgård: "Im Sommer" ist mit Aquarellen von Anselm Kiefer aus dem Norwegischen von Paul Berf übersetzt beim Luchterhand Verlag erschienen.