Bildrechte: Thomas Aurin/Deutsche Oper Berlin

Europa hat die Hosen voll!

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Europa ist reif für den Bademantel: Rossinis "Reise nach Reims"

Es passiert nichts, das aber beschwingt: Was wie eine Europa-Satire aussieht, komponierte Rossini 1825 als Krönungsoper für Karl X. An der Deutschen Oper Berlin wird daraus ein Kuraufenthalt des müden Kontinents. Nachtkritik von Peter Jungblut.

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Wer würde das bestreiten: Europa ist gerade wirklich reif für das Sanatorium. Die Frage ist nur, ob es dort wieder zu Kräften kommt, oder erst recht verdämmert. Für den Regisseur Jan Bosse ist die Antwort klar: Beim ihm kommt Europa nie wieder raus aus der Heilanstalt, hängt für immer am Tropf, dreht allenfalls mal eine Runde um die freizügigen Krankenschwestern und ordnet die Laken. Diese Art Leerlauf passt zweifellos zu Rossinis Oper "Die Reise nach Reims" (1825), die fällt nämlich mangels Pferden aus.

In der Bademantel-Hölle

Statt wie geplant an den Krönungsfeierlichkeiten teilzunehmen, vertrödeln die internationalen Gäste gezwungenermaßen ihre Zeit in einer Provinzherberge, widmen sich ihren Liebschaften und Nationalhymnen. Es passiert rein gar nichts, das aber hat Rossini schwungvoll vertont. Jan Bosse und seine Ausstatter Stéphane Laimé und Kathrin Plath verlegten diesen rasenden Stillstand an der Deutschen Oper Berlin gestern Abend in eine wahre Bademantel-Hölle. Egal, ob sie aus Frankreich, Russland, Polen, Deutschland, Italien oder Spanien kommen: Alle Beteiligten schlurfen in Gummilatschen rum und hüllen sich in farbenprächtige Kimonos. Das Europa-Sanatorium ist hier ein gleißender Spiegelsaal ohne Ausgang und ohne Fenster. Einziger Spaß sind Matratzenhüpfen und Essen.

Blickdichte Europa-Wäsche

Der Clou: Die Gäste tragen Unterwäsche in ihren jeweiligen Nationalfarben, noch weiter drunter jedoch blickdichte Europaflaggen. Hört sich alles sehr plakativ an, ist von trauriger Aktualität, jetzt, wo der müde Kontinent gerade seinen Geist aufgibt, allerdings ist das Regiekonzept auch viel zu augenfällig, um drei Stunden spannend zu bleiben. Nach etwa fünf Minuten hat jeder verstanden, worum es geht, danach schleppt sich die Inszenierung mit klamaukigen Einfällen über die Runden. Das allerdings hat dem Publikum ausnehmend gut gefallen, es gab herzlichen Beifall. Die Bilder sind in der Tat opulent, technisch brilliant, sehr gut geprobt. Doch es fehlt der Biss, das hat Laura Scozzi vor ein paar Jahren in Nürnberg wesentlich besser gekonnt. Sie inszenierte Rossinis monströsen Einakter als beißende Satire auf die Brüsseler Bürokratie. Jan Bosse findet es lustig, Engländer mit "Fish & Chips", Russen mit Pistolen und Franzosen mit roten Herzen in Verbindung zu bringen. Der Deutsche darf immerhin einen Notenschlüssel vor sich hertragen.

Damals hatte Europa noch was vor

Der junge italienische Dirigent Giacomo Sagripanti machte seine Sache in Berlin sehr gut, geriet nicht in die Versuchung, Rossinis bisweilen sehr vorsehbare Einfälle mechanisch abschnurren zu lassen. Unter den sage und schreibe 18 Solisten brillierte die russische Sopranistin Elena Tsallagova in der Hauptrolle der Corinna, einer Muse, die ständig geniale Verse schmiedet. Aber auch der georgische Bass Mikheil Kiria als etwas unbeholfener britischer Lord hatte die Sympathien auf seiner Seite. Die Ironie an dem Ganzen: Rossini komponierte sein Werk als Krönungsoper für Karl X., einem reaktionären Monarchen, der nach ein paar Jahren von der Juli-Revolution weggefegt wurde. Damals hatte Europa also noch was vor.

Wieder am 22., 24. und 30. Juni, weitere Termine.