Cover: Schelmenroman von Gerhard Henschel
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Schelmenroman von Gerhard Henschel

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"Die Welt wird nicht besser": Gerhard Henschels "Schelmenroman"

Ein Humorist und Chronist deutscher Geschichte ist Gerhard Henschel gleichermaßen. Der zehnte Band seines autobiografischen Romanzyklus "Schelmenroman" erzählt von der Zeit vor 30 Jahren, die erstaunlich viel mit unserer zu tun hat. Eine Rezension.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Beginnen wir doch mal beim Cover: Den Umschlag des "Schelmenromans" ziert ein Foto, auf dem der Autor Gerhard Henschel selbst vor einem Bierglas zu sehen ist, in die Kamera mehr stierend denn sinnierend. Jener Gerhard Henschel, der sein literarisches alter ego Martin Schlosser nennt. "Das Foto stammt aus der Mitte der 90-er Jahre, aus der Kneipe der Frankfurter Großmarkthalle, das war am Ende einer durchwachten Nacht, deswegen sieht Martin Schlosser da etwas zerstrubbelt aus", erklärt der 61-jährige Henschel im Interview.

Zwischen 1994 und 1996 spielt Gerhard Henschels jüngster autobiografischer Roman. In Frankfurt a.M. war der Verfasser damals so wie sein Romanheld Martin Schlosser Redakteur des Satiremagazins "Titanic" und ging mit den ebenfalls dort arbeitenden Karikaturisten Achim Greser und Heribert Lenz, befreundeten Satirikern wie Oliver Maria Schmitt sowie Eckhard Henscheid abends gern aus, zum von Henscheid sogenannten "Elendbiertrinken" an irgendeinem Kiosk.

Literarischer Ziehvater Eckard Henscheid

Der heute 82-jährige Schriftsteller Eckard Henscheid aus Amberg in der Oberpfalz war für den damals Anfang dreißigjährigen Henschel ein literarischer Ziehvater. Mit ihm und Brigitte Kronauer zusammen, brachte er 1997 die "Kulturgeschichte der Missverständnisse" heraus. Henschel nennt Henscheid "in vielerlei Hinsicht stilprägend" und fragt voller Bewunderung im Roman: "Gab es irgendeinen deutschen Schriftsteller, der noch öfter literarisches Neuland betrat?"

Die Anerkennung ist durchaus beiderseitig: Henscheid wiederum hat seinen Schüler Henschel mal in die Nähe des großen Sprachkritikers Karl Kraus gerückt. Natürlich ist Henscheid nicht der einzige, zu dem er aufschaut: Robert Gernhardt als bekanntester Vertreter der Neuen Frankfurter Schule ist ihm ebenso ein Vorbild, er begegnet ihm oft in der "Titanic"-Montagskonferenz oder bei privaten Festen und liest im "Spiegel"-Interview, wie Gernhardt 1994 vor den "Ernstbolden" und Feinden der Satire warnt: "Ich finde es wirklich beängstigend, dass all die angeblich emanzipatorischen Bewegungen genauso auf Lachverbote dringen wie Diktatoren oder Fundamentalisten. Hinter jeder Humor-Zensur lauert dieser finale Blick."

Auf diese 2024 erstaunlich aktuell anmutenden Zeilen angesprochen, sagt Henschel im Interview: "Ja, das ist natürlich auch heute noch akut. Dessen muss man sich immer bewusst sein, dass es stimmt."

Viele Verbindungslinien in die Gegenwart

Überhaupt ist man überrascht, wie vieles von dem, was Henschel erzählt, auch uns Heutige nach wie vor beschäftigt. Migration: schon damals ein heiß diskutiertes Thema. Manfred Kanther, der damalige Bundesinnenminister, drängte zur Abschiebung. Henschel schreibt: "Wäre dieser Kerl nicht bereits damit ausgelastet gewesen, Asylbewerber ans Messer zu liefern, hätte er in einer Rechtsrock-Band mit dem Namen ‚Kaltschnäuzige Arier‘ anheuern können."

Die mittleren neunziger Jahre waren nicht nur die Zeit von "Mondscheintarif" und Reichstagsverhüllung, sondern auch die Zeit, in der eine Studentin namens Ellen Kositza gemeinsam mit anderen Reaktionären erste publizistische Gehversuche unternahm ("Wir ʼ89er") – heute ist sie als Frau von Götz Kubitschek eine neurechte Ikone.

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Gerhard Henschel, Autor des Romanzyklus "Schelmenroman"

1994 nahm Angela Merkel als Bundesumweltministerin einen Bericht des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung entgegen, in dem eindringlich vor einer Klimakatastrophe gewarnt und eine Verringerung der Emissionen angemahnt wurde. Und 1995 beschäftigte die Republik und insbesondere Bayern der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der Teile der Bayerischen Volksschulordnung für verfassungswidrig und nichtig erklärte. Wie man weiß, eine bis heute umstrittene Frage, ob man Kreuze in Schulen und öffentlichen Ämtern aufhängen sollte oder nicht.

Henschels Onkel Johann Friedrich Henschel war als Bundesverfassungsrichter und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts am Urteil beteiligt, weshalb auch er selbstredend im Buch auftaucht unter dem Alias "Rudi Schlosser". Dass dieses Kruzifix-Urteil bis heute im Freistaat gerade unter den von Henschel sogenannten "christlichen Kreuzrittern" heiß diskutiert wird, zeigt an, dass hier vieles bis in unsere Gegenwart reicht. "Ja, sowohl personell als auch thematisch", stimmt Gerhard im Gespräch Henschel zu, "und man muss wohl sagen: Die Welt wird nicht besser."

Ein polyamouröser Picaro

Zusammen mit seinem Freund Wiglaf Droste fand Henschel in ihrem "Schreibgulag" bei der Arbeit am Roman "Der Barbier von Bebra" das herrlich verballhornende Bonmot: "Was lange gärt, wird endlich Wut!" Heute haben wir "Wut-Bauern" (Bild-Zeitung), davor waren’s Wut-Bürger. Bricht vielleicht jetzt hervor, was lange gegärt hat? Henschel wehrt bescheiden ab: "Da verlangen Sie von mir mehr als ich leisten kann. Ein so gewiefter Zeitdiagnostiker bin ich nicht, dass ich da jetzt etwas Druckreifes darauf antworten kann."

Natürlich gemahnt einiges an diesem Roman auch an Walter Kempowskis "Deutsche Chronik", und es ist kein Zufall, dass Henschel darin einige Kempowski-Klassiker wie "Gut dem Dinge" zitiert. Mit Max Goldt und anderen besucht er seinen Lehrmeister Kempowski in dessen Haus in Nartum auch im "Schelmenroman", der ein streckenweise immens komischer Tatsachenroman über bundesrepublikanische Geschichte geworden ist. Als "Verbalbösewicht" ist sein Verfasser mal tituliert worden.

Nicht unterschlagen werden soll dabei seines Romanhelden Hang zu häufig wechselnden Sexualpartnerinnen. Martin Schlosser ist ein Freund der freien Liebe, der Polyamorie, und steigt mit fast aberwitzig vielen Frauen ins Bett. "Die Monogamie hat Martin Schlosser nie recht überzeugt", konzediert Henschel. Doch ist an alledem nichts Schlüpfriges. Einen "Bad Sex in Fiction Award", wie ihn die Briten für literarisch besonders missratene Sex-Szenen verleihen, kann Henschel schon deshalb nicht gewinnen, weil er immer abblendet, bevor "es zum Äußersten kommt", um’s züchtig auszudrücken.

Alte Tagesschau-Nachrichten und viel Zeitkolorit

So folgt man Martin Schlossers Amouren und Lesetouren gern und unternimmt mithilfe dieses akribisch recherchierten Romans eine wunderbare Zeitreise – alte Tagesschau-Meldungen werden immer wieder im Wortlaut zitiert. Auch dabei fallen Parallelen zu unserer Zeit auf, zum Beispiel hinsichtlich des inflationären Gebrauchs des Wortes "massiv".

Henschel schreibt über die schon damals grassierende Sprachmode: "Der ARD-Reporter Robert Hetkämper bezeichnete die Raketentests der Chinesen als ‚massive Drohgebärde‘. In der Tagesschau war zuletzt auch zu hören gewesen, dass die katholische Kirche die Wähler in Polen ‚massiv‘ vor dem neuen Präsidenten Aleksander Kwasniewski gewarnt habe, dass sich ‚massive Proteste‘ gegen die neuen französischen Atombombenzündungen im Pazifik richteten und dass Schneestürme den Straßenverkehr in Europa ‚massiv behindert‘ hätten. Mit dem Eigenschaftswort ‚massiv‘ wurde mittlerweile jede zweite oder dritte Fernsehnachricht aufgepeppt, damit wir Zuschauer nicht einschliefen." Chapeau!

Ein Schelmenroman, wie ihn sich Rühmkorf wünschte

Damals beschäftigte die Republik ein "Großgauner" und Pleitier namens Jürgen Schneider, heute ist es eine Figur wie René Benko. Die berühmte "Denkpause" ist – auch das lernt man hier – nicht von Markus Söder ersonnen worden: Vera Lengsfeld, eine ziemlich Spaß-befreite scharfe Kritikerin Henschels, hat sie schon damals in einem Zeitungsartikel eingefordert. Man denkt beim Lesen: Was war das nur für ein fürchterlicher Murks mit dieser seinerzeit initiierten Rechtschreibreform, deren Absurditäten Henschel sehr komisch zu benennen versteht. Unsere "Humorlandschaft", da wird man Henschel unbedingt beipflichten, hat sich seitdem nicht wirklich melioriert. Und es ist ein schöner Zufall, dass Peter Rühmkorf just zur Zeit der Handlung dieses Romans sein Tagebuch "TABU I" publizierte, in dem er beklagte: "Der von mir erhoffte neue deutsche Schelmenroman lässt weiter auf sich warten. Statt das Lachen neu zu erfinden, überall nur die alte bekleckerte Wehleidigkeit ... Das Schwierigste: sich mit einem lachenden Auge über das andere weinende lustig zu machen."

Genau diese von Rühmkorf beschrieben Schwierigkeit hat Henschel gemeistert und den eingeforderten Schelmenroman jetzt geschrieben.

  • Gerhard Henschel: „Schelmenroman“. Hoffmann & Campe

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