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"Der letzte Bürger": Thomas Melles neues Theaterstück

Heute Abend wird das neue Stück des bereits drei Mal für den Deutschen Buchpreis nominierten Autors Thomas Melle ("Sickster", "3000 Euro", "Die Welt im Rücken") uraufgeführt: in Bonn, wo Melle aufgewachsen ist. Von Knut Cordsen

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Thomas Melle: „Ich denke beim dramatischen Schreiben immer die Bühne und die Situation mit. Während sozusagen ein Prosatext im Kopf entsteht und alles möglich ist, denke ich erstmal bei einem Theatertext an die Bühnensituation, deren Möglichkeiten und auch Unmöglichkeiten, versuche das dann immer wieder zu sprengen und nicht nur im Rahmen der Bühne zu denken, aber bleibe dann doch sehr stark bei den Figuren und Dialogen, die immer wieder aufgebrochen werden, aber die sehr mit der Konkretion der Situation spielen. Dass man da steht, jetzt und hier. Und diese theatralische Situation ist halt immer wieder interessant und was völlig anderes als Prosa zu schreiben.“ 

Es könnte so etwas wie das Stück der Stunde sein, das der 42-jährige Thomas Melle da geschrieben hat. Ein Requiem, einen Abgesang will er es nicht nennen, eher „eine Art Bestandsaufnahme“. „Der letzte Bürger“- der Titel ist programmatisch.

Thomas Melle: „Der Titel ist sozusagen eine These. Das Bürgertum, das linke Bürgertum, wie ich es sehen würde, scheint mir gerade wegzubrechen, und ich habe versucht, die historischen oder die biographischen Gründe dafür offenzulegen oder Schlaglichter darauf zu werfen und in aller Unschärfe und Komplexität das zu beleuchten. Und ich glaube, dass gerade jetzt das Bürgertum, das sich früher mit einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gesehen hat und sich über diese auch definiert hat, diese Verantwortung vielleicht aus dem Blick verliert und sozusagen versucht, die eigenen Schäfchen noch ins Trockene zu bringen, sich neoliberal zu wappnen, sich gegenseitig mit Smoothies dopt und den Kindern noch Mandarin beibringt, damit man sozusagen die eigene Position im Kampf um die besseren Plätze stärkt, aber sich nicht mehr als Mitte und Rückgrat der Gesellschaft sieht.“

Thomas Melles jüngstes Theaterstück spielt hauptsächlich im Jahr 2016, in Bonn, dem politischen Zentrum der alten Bundesrepublik, wo Leo Clarenbach im Sterben liegt. Demenzkrank dämmert er vor sich hin, erinnert sich nur noch momentweise an jene Zeiten, in die Melle immer wieder geschickt zurückblendet: die 80-er und 70-er Jahre, als Leo Clarenbach, K-Gruppen-Mitglied, „roter Maoist“, die Verkörperung des linken altbundesrepublikanischen Bildungsbürgertums, sich als DDR-Spion anwerben ließ. Der Beginn eines Doppellebens, einer Lebenslüge, die nach dem Fall der Mauer offenbar wurde, die seine Familie zerbrechen ließ und die ihm seine Kinder nie verziehen haben. Nun stehen sie an seinem Sterbebett und reden: über Vergangenes wie Gegenwärtiges, etwa den „Paradigmenwechsel“, den der „große Horrorclown“ in Amerika bewirkt hat und dessen Wahl, „ein historisches Datum“, sie wehrlos mitansehen müssen. Die Wörter seien eh alle umgedeutet, sagt einer, mit Blick auf die „alternative Rechte“ und auf Leos jungen Enkel Paul, der auch zugegen ist und mit seinem Großvater ebenso wie mit der AfD sympathisiert – letztere bekanntlich eine Partei, die sich als „neue bürgerliche Kraft“ begreift.

Thomas Melle: „Also das ist nun mal seltsamerweise so, dass Begriffe wie ‚Alternative‘, ‚Bürgertum‘ und sogar ‚Widerstand‘ plötzlich eine semantische Veränderung durchlaufen haben und einfach rechts besetzt wurden. Und darum müsste man sich auch mal kümmern, dass man die Sachen wieder straight kriegt.“

Der kluge Romancier und psychologisch feinfühlige Dramatiker Thomas Melle will mit seinem Stück „Der letzte Bürger“ niemanden agitieren, so wie man das 1968, in der Zeit, die Leo Clarenbach prägte, noch auf der Bühne versucht hätte. Und doch geht es ihm mit seinem Schauspiel um eine Repolitisierung des Publikums.

Thomas Melle: „Tatsächlich sehe ich es gerade so. Die Debatten finden langsam wieder statt. Die Leute versuchen zu sehen, was jetzt die Substanz einer eigenen politischen Haltung sein könnte. Also man erwacht so ein bisschen aus dem Schneewittchenschlaf. Und wachgerüttelt merkt man: Jetzt müssten wir eigentlich in gedankliche Aktion eintreten.“ 

Das sind Sätze, die Alice Buddeberg, die Regisseurin der Uraufführung, unterstreicht. Allzu „ruhig und lethargisch“ seien wir heutzutage alle angesichts der politischen Umbrüche. Thomas Melle ist derselben Meinung. Wie sagt es eine seiner Figuren? „Alles, was wir sind, sind wir durch unsere eigenen Entscheidungen.“

Thomas Melle: „Die Welt ist ja in Aufruhr gerade. Nur die linke westliche Perspektive verdünnt sich gerade ein bisschen. Und wir sind tatsächlich ein bisschen träge und faul geworden und müssten eigentlich mal überlegen, was die Linke überhaupt ist. Denn sonst, wie es auch im Stück passiert, tritt eine Neurechte an deren Stelle und man hat dem nichts mehr entgegen zu setzten. Das ist sozusagen eine temporär stattfindende Tragödie.“