Das Bildschirmfoto zeigt eine israelische Geisel bei ihrer Freilassung im Zuge des Geiselaustauschs.
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Das Bildschirmfoto zeigt eine israelische Geisel bei ihrer Freilassung im Zuge des Geiselaustauschs.

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Geiseldrama in Nahost: Wer verhandelt eigentlich mit wem?

Man "arbeite sehr hart" an einem "Kompromiss", sagt ein Hamas-Sprecher: Gemeint ist die Freilassung Entführter gegen israelische Zugeständnisse. Wie laufen diese Verhandlungen in der Praxis ab? Zwei Nahost-Experten geben im BR24-Gespräch Einblicke.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Noch immer hält das Schicksal der Geiseln in der Hand palästinensischer Terrorgruppen die Welt in Atem. Nachrichten über den jeweils aktuellen Verhandlungsstand füllen unter anderem den BR24-Nahost-Ticker. Insgesamt fünfmal konnten wir bisher über die Freilassung einzelner Gruppen, zumeist Kinder und Frauen, berichten.

Es sind bei Weitem nicht nur israelische Staatsbürger: Heute etwa soll ein Flugzeug mit 17 Verschleppten aus Thailand am Flughafen Bangkok landen. Die Zahl der Geiseln mit deutschem Pass beziffert das Auswärtige Amt auf 20, wieder freigelassen wurden bisher zwölf.

Man "arbeite sehr hart" mit den Vermittlern, um einen "Kompromiss zu schließen", sagt ein Hamas-Sprecher dem Nachrichtensender Al-Jazeera. Wer verhandelt da über was, und wie könnte es weitergehen?

Israel unter Zugzwang

Die Hauptakteure: Israel und die Hamas. Die angeschlagene israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu – aus militärstrategischen Gründen wie aus ihrem Selbstverständnis heraus eigentlich Verfechterin einer unnachgiebigen Linie – steht unter Erfolgszwang, die Geiseln unversehrt nach Hause zu bringen. Jan Busse, Konfliktforscher und Nahostexperte an der Bundeswehruniversität München (s.u.), sieht eine schwer auflösbare Spannung zwischen den israelischen Kriegszielen – der Zerstörung der Hamas und Geiselbefreiung: "Da sind ja nicht nur die Bilder von Demonstrationen verzweifelter Angehöriger, sondern auch der Druck des Auslands. Soweit ich weiß, haben Netanjahu und Joe Biden in der letzten Zeit 13 Mal miteinander telefoniert."

Die Hamas spielt auf Zeit

Die Gegenseite – deren Menschenraub gemäß Völkerrecht ein Kriegsverbrechen darstellt – hat es weniger eilig, ihr menschliches Faustpfand aus der Hand zu geben. Schließlich kann sie jede herausgehandelte Feuerpause, jeden aus israelischer Haft entlassenen Palästinenser als Propagandaerfolg nicht nur bei ihren Anhängern, sondern bei allen Palästinensern verbuchen. Dazu kommt die außenpolitische Wirkung.

Steven Höfner, der das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) für die palästinensischen Gebiete in Ramallah leitet (s.u.), beschreibt die Strategie der Hamas so: "Die Terror-Operationen der Hamas vom 7. Oktober waren nicht dazu gedacht, Israel militärisch zu schlagen. Es ging darum, mit barbarischen Taten möglichst grausame Bilder zu erzeugen und schärfste Gegenmaßnahmen zu provozieren. Die erwartbare Eskalation hat dazu geführt, dass Israel bei vielen, vor allem im globalen Süden, als Aggressor dasteht."

Ein Spiel mit vielen Akteuren

Auch die Verhandlungssituation ist komplex. Schließlich sind neben Israel und der Hamas auch internationale Vermittler und indirekt die betroffenen Drittstaaten involviert. Die Vorstellung, dass die Beteiligten um einen imaginären "grünen Tisch" sitzen, führt allerdings in die Irre. "Das letzte Mal, dass es einen direkten Gesprächskanal zwischen Israel und der Hamas gab, war 2006 – damals wurde ein entführter israelischer Soldat gegen 1.000 inhaftierte Palästinenser eingetauscht", sagt Jan Busse. 2023 läuft nichts ohne internationale Vermittler wie Ägypten und Katar – vor allem Katar. "Das funktioniert in etwa so, dass Hamas-Gesandte mit Vermittlern aus Katar sprechen, die dann die CIA kontaktieren, die ihrerseits den Mossad-Chef informiert – und umgekehrt."

Selbstredend läuft alles unter strikter Geheimhaltung ab. Nur selten geben anonyme Quellen der "New York Times" oder Al-Jazeera detailliertere Einblicke ins Räderwerk der Diplomatie. So wären die Gespräche der vergangenen Woche beinahe gescheitert, weil die Hamas zwar eine Zahl von Geiseln nannte, die freikommen sollten, aber keine Namen – was für die israelische Regierung inakzeptabel war. Erst ein gemeinsames Machtwort von Biden und dem Emir von Katar brachte die Wende.

Hamas und Islamischer Dschihad

Dass die Bilder der letzten Geisel-Freilassung in der Nacht auf Dienstag neben Hamas-Milizen auch solche der konkurrierenden Islamischer Dschihad in Palästina (PIJ) zeigen, hat viele irritiert. Die Terrororganisation ist die zweitgrößte bewaffnete Gruppe im Gazastreifen. Aktuelle Zahlen zur Stärke der Gruppe sind schwer zu erheben: Laut dem World Factbook der CIA geht man im Jahr 2022 von etwa 1.000 Mitgliedern in Gaza und dem Westjordanland aus, dazu kommen Waffen und Munition.

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Ein Kämpfer der Al-Quds-Brigaden - des militärischen Arms der Terrorgruppe Islamischer Staat - übergibt israelische Kinder an Rotkreuzhelfer.

Für Steven Höfner ist die Beteiligung der Hamas-Konkurrenten keine Überraschung: "Die Operationen der Hamas vom 7. Oktober waren so 'durchschlagend', dass die Grenze vom Gaza-Streifen nach Israel eine ganze Zeit quasi offenstand und auch andere wie der PIJ rüberkommen und Zivilisten töten sowie entführen konnten".

Wie viele es ursprünglich waren und wie viele schon zu Tode gekommen sind, wissen wohl auch die Hamas und der PIJ nicht vollumfänglich, vermutet Höfner. Die Feuerpausen dienten der Hamas auch dazu, weitere Geiseln zu lokalisieren. Jan Busse hält die offizielle Zahl von 160 Überlebenden für plausibel – unter ihnen rund 30 in der Hand des PIJ und 20 bei weiteren Splittergruppen.

Hamas, Hisbollah, Fatah, PIJ: Die Machtverhältnisse unter den Palästinensern

Für Konfliktforscher Busse sind die Auftritte des Islamischen Dschihad im Rahmen der Hamas-Inszenierungen ein eher gutes Zeichen. Die Machtverhältnisse seien ohnehin klar, so Busse: "Der PIJ weiß, dass er nur eine Nebenrolle spielt. Er hat nie an politischen Prozessen wie Wahlen teilgenommen, ist keine Massenbewegung, sondern besteht aus kleinen Zellen im Untergrund."

Maßgeblicher und für Israel bedrohlicher ist die Rolle der vom Libanon aus operierenden Hisbollah. In den vergangenen zwei Jahren, erklärt KAS-Experte Höfner, habe es viele Treffen zwischen Hamas und der Hisbollah gegeben – beide werden vom Iran gestützt. Dass die Hisbollah bislang nicht in die volle Konfrontation eingestiegen ist, könne ein Hinweis sein, dass der 7. Oktober nicht mit den Verbündeten der Hamas koordiniert wurde.

Gemeinsamer Gegner ist neben dem Feind Israel die von der Fatah geführte Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland. "Die Fatah um den 88-jährigen Mahmud Abbas gilt als schwach und korrupt, die Zustimmungsrate zu Abbas ist im Westjordanland auf circa 20 Prozent gesunken", erklärt Höfner. Die demokratische Legitimität schwindet: Seit 2006 hat es keine nationalen Wahlen mehr gegeben. "70 Prozent der Palästinenser dort sind unter 35, die haben noch nie gewählt."

Westjordanland: Der nächste Kriegsschauplatz?

Für Steven Höfner ist es daher absehbar, dass der Konflikt demnächst auf das Westjordanland übergreift. Ein Faktor sind dabei die Übergriffe radikaler israelischer Siedler. "Der Gazastreifen ist gar nicht so relevant. Im Nahostkonflikt ist der Gaza-Streifen wichtig, aber das Westjordanland ist von entscheidender Bedeutung."

Jan Busse arbeitet an der Universität der Bundeswehr München und ist Experte für Internationale Politik und Konfliktforschung. Sein zuletzt mit Muriel Asseburg wieder veröffentlichtes Standardwerk zum Thema trägt den Titel "Der Nahostkonflikt: Geschichte, Positionen, Perspektiven".

Steven Höfner von der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) ist seit Januar 2020 Leiter des KAS-Büros für die Palästinensischen Gebiete in Ramallah.

Im Audio: Die Hamas hat weitere Geiseln freigelassen

Fahrzeug des Roten Kreuzes mit freigelassenen Geiseln
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Die militant-islamistische Hamas hat am Abend weitere Geiseln freigelassen und dem Roten Kreuz übergeben.

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