Mehr Mädchen mit Essstörungen als vor der Pandemie
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Mehr Mädchen mit Essstörungen als vor der Pandemie

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Wenn Jugendliche gefährlich lange auf Therapie warten

Fast fünf Monate vergehen in Bayern im Schnitt, bis jemand in psychischer Not eine Therapie beginnen kann. Bereits im Februar dieses Jahres hat Bundesgesundheitsminister Lauterbach Verbesserungen angekündigt. Viel getan hat sich seither nicht.

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Olivia ist 16 Jahre alt und hat Anorexie. Einen Therapieplatz hat sie lange nicht gefunden – und das, obwohl sie schon früh zu ihrer Mutter ging und ihr gestand, dass sie Hilfe brauche. "Auch, als ich an meinem tiefsten Punkt war, hab' ich nur permanent gesagt: Ich brauche Therapie", erinnert sich die 16-Jährige an die Situation vor einem Jahr.

Zunächst sei es gar nicht so sehr darum gegangen abzunehmen, sagt das Mädchen, das in Wirklichkeit anders heißt. Vielmehr steckte das Gefühl dahinter, wieder die Kontrolle zu bekommen über ein Leben, das aus den Fugen geraten war. "Es gibt nichts, worüber man so viel Kontrolle hat wie beim Essen." Sie kochte für ihre Familie, aß selbst aber nicht. Im Dezember 2022 war ihr klar: Allein kommt sie da nicht mehr raus.

Lebensbedrohlicher Zustand

Es war der Beginn einer langen Odyssee, die im Januar bei einer Beratungsstelle begann und im Mai in einer bayerischen Klinik auf der geschlossenen Station endete. Olivia sagt, sie sei seit März auf gepackten Koffern gesessen. Mit jeder Woche Wartezeit auf einen Platz in einer psychosomatischen Klinik nahm sie weiter ab. Endlich dort, war sie schon so krank, dass ihr Gewicht trotzdem weiter nach unten ging. Am Ende hatte sie insgesamt 18 Kilo verloren. Ihr Zustand wurde als lebensbedrohlich eingestuft.

Je länger das Warten, desto schlechter der Zustand, bestätigt Professor Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor und Chefarzt im Fachzentrum für Psychosomatik & Psychotherapie in der Schön Klinik Roseneck. "Wenn da keine rasche Therapie erfolgt, verschlimmert es sogar die Krankheit."

Bis zu drei Monate Wartezeit

Seine psychosomatische Klinik ist spezialisiert auf Essstörungen. Sechs bis zwölf Wochen wartet man dort auf einen Platz. Wenn Kinder oder Jugendliche allerdings eine gewisse Gewichtsgrenze unterschreiten, nimmt Voderholzer sie nicht auf. Er hat keine Notfallstation. Wie lange man auf einen Platz in einer bayerischen Kinder- und Jugendpsychiatrie wartet, die einen Versorgungsauftrag hat, dazu gibt es beim Bayerischen Bezirketag, der für die Bezirkskliniken zuständig ist, keine Zahlen. "Aber es ist tatsächlich so, dass die Wartezeiten auf einen Therapieplatz lange sind", sagt Celia Wenk-Wolff, die beim Bayerischen Bezirketag das Referat für Gesundheit und Psychiatrie leitet.

Brauche jemand einen Platz auf einer geschlossenen Station, weil es sich um Fremd- oder – wie in Olivias Fall – Eigengefährdung handele, so gebe es in diesen Fällen immer einen Platz. Muss es also immer brennen, bevor man Hilfe bekommt?

In gewisser Weise schon, sagt Celia Wenk-Wolff. Eine einfache Lösung für die aktuelle Situation sieht sie nicht. Das Hauptproblem sei der Personalmangel in den Kliniken, weshalb Betten nicht ausreichend belegt werden könnten. Aber sie nennt auch die unzureichende ambulante Versorgung bei niedergelassenen Therapeuten und Therapeutinnen. Ulrich Voderholzer von der Schön Klinik Roseneck sieht das ähnlich: "Wenn die ambulante Behandlung besser wäre, müssten nicht so viele stationär kommen."

Fehlende ambulante Hilfe, volle Notfallstationen

Recht gibt ihm eine Befragung des Sachverständigenrats Gesundheit. Die kam bereits 2017 zum Schluss: Gäbe es mehr ambulante Angebote, würden nicht fälschlicherweise die Notfallstationen der Kliniken in Anspruch genommen. Ursache hierfür wären die langen Wartezeiten auf einen Platz bei einem niedergelassenen Therapeuten, ergab sich damals aus der Befragung.

Die Wartelisten bei niedergelassenen Therapeutinnen und Therapeuten waren damals schon lang. Die Pandemie hat die Situation zusätzlich zugespitzt. Diese Erfahrung machte auch Andrea – Mutter einer Tochter mit einer Angsterkrankung. 20 Therapeuten telefonierte sie durch – in einem Umkreis bis zu 60 Kilometer um ihren Wohnort in Oberbayern herum. "Meistens kriegst du niemanden ans Telefon, sondern es heißt immer am Anrufbeantworter: Ich kann niemanden nehmen." Oft werde man damit vertröstet, dass es im nächsten halben Jahr oder Jahr einen Platz geben könnte. "Aber was nutzt mir ein Platz in einem halben Jahr, wenn meine Tochter jetzt akute Angstzustände hat, wir keine Nacht schlafen, sie in der Schule abrutscht und es ihr einfach schlecht geht?"

Bundesgesundheitsministerium: "Die Prüfungen dauern an"

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sprach bereits im Februar von einem Skandal. Im April sagte er: "Die Kinder sind in psychischer Not. Da kann es nicht sein, dass Kinder ein Jahr lang auf einen Therapieplatz warten, weil wir nicht genug Therapeutinnen und Therapeutinnen haben." Verbesserungen wurden bereits damals angekündigt. Aber: An der Situation hat sich seither nicht viel verändert. Auf BR-Anfrage heißt es aus dem Bundesgesundheitsministerium: Vielfältige Aspekte würden derzeit geprüft, wie die Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz reduziert werden könnten. Man bleibt dort bei der vagen Aussage: "Die gesetzlichen Änderungen zur Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung sollen in ein kommendes Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden. Die entsprechenden Prüfungen dauern zur Zeit an."

Therapeutin: Nicht behandeln macht die Situation schlimmer

Bis eine Therapie wirklich startet, warten also weiterhin 40 Prozent der Betroffenen länger als ein halbes Jahr und jeder Dritte bis zu sechs Monate. Ein Zeitraum, in dem sich gerade in jungen Jahren viel verändern könnte, sagt die Tölzer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Christina Spohr. Aber: "Je länger ich nichts tue, umso schlimmer wird's in der Regel. Das ist mit Entzündungen so, das ist eben mit der Seele auch so."

Ausweg: Kostenerstattung?

Dabei gäbe es bereits eine gesetzliche Grundlage, um Kindern und Jugendlichen schneller zu helfen, das sogenannte Kostenerstattungsverfahren. Das sieht nämlich vor: Wenn ein Patient nachweist, dass er keinen Platz bei Therapeuten mit Kassensitz bekommen kann, zahlen die Kassen in der Regel eine Behandlung bei Therapeutinnen wie Christina Spohr. Sie hat zwar als approbierte Verhaltenstherapeutin die entsprechende Qualifikation, aber keinen der von der Kassenärztlichen Vereinigung begrenzten und teuren Kassensitze und kann damit eigentlich nicht mit den Krankenkassen abrechnen – es sei denn, die Krankenkassen genehmigen die sogenannte Kostenerstattung.

Allerdings – so die Erfahrung von Christina Spohr – die Kassen handhaben die Kostenerstattung sehr unterschiedlich. Das bestätigt auf BR-Anfrage auch der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen heißt es dazu: "Wir haben keine Einblicke in die Entscheidungsfindung im Einzelfall. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass über Anträge auf Kostenerstattung im Bereich der Psychotherapie gewissenhaft und den gesetzlichen Regeln entsprechend entschieden wird."

Mädchen wartet weiter auf Therapie, Mutter verzweifelt

In Andreas Fall hat die Krankenkasse den Antrag auf Kostenerstattung abgelehnt. Ihre Tochter wartet weiter auf Hilfe. Die Mutter sagt, sie gehe "auf dem Zahnfleisch", weil sie jede Nacht bei ihrer 11-Jährigen schlafe.

Olivia, die unter Anorexie leidet, hat im Sommer auf eigene Verantwortung die Klinik verlassen. Sie weiß, bis sie wirklich gesund ist, ist es noch ein Weg. Den versucht sie jetzt mit selbst kreierten Essensplänen, einer ambulanten Therapeutin und ihrer Familie zu meistern.

Dieser Artikel ist erstmals am 6. Dezember 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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