Marion Tauschwitz‘ Biographie "Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben"
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Ein Buch, das mehr ist als eine Neuauflage: Marion Tauschwitz‘ Biographie der jungen Lyrikerin.

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Neue Erkenntnisse über die Czernowitzer Dichterin Selma Merbaum

Die Dichterin Selma Merbaum gilt als eine der großen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Marion Tauschwitz hat deren Lebensgeschichte schon einmal erzählt. Auf ihr Buch erhielt sie so viele Reaktionen, dass sie weiterforschte und nun weitererzählt.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Was kann einem Buch besseres passieren, als Gespräche oder Briefe anzuregen? Nachdem Marion Tauschwitz ihre Biographie von Selma Merbaum veröffentlicht hatte, ist genau das passiert. Sie erhielt viele Reaktionen, unter anderem aus Israel.

Yosef Eshet war sechs Jahre alt, als er zusammen mit seinen Eltern in ein rumänisches Lager am Fluss Bug deportiert wurde. Dort, im Areal eines ehemaligen Steinbruchs, begegnete er Selma Merbaum. Er schrieb Marion Tauschwitz von dieser Zeit.

"Selma wurde von der Mutter von Yosef Eshet gefragt, ob sie sich nicht um den kleinen Jungen kümmern könnte", erzählt Marion Tauschwitz: "Die Mutter hat sicher gemerkt, dass Selma sehr naturverbunden war und die Kinder weggeführt hat von dem Grauen und den Grausamkeiten. Und dann hat Selma bald eine ganze Gruppe von Kindern um sich gehabt."

Zärtlich: Als Mensch, als Dichterin

Yosef Eshet erinnert sich noch, wie freundlich Selma Merbaum gewesen sei, "menschenzärtlich" nennt er das, und wie sie ihnen allen die Natur nahegebracht habe. Diese und andere Erinnerungen sind in die nun noch einmal erzählte Lebensgeschichte der jungen Dichterin Selma Merbaum eingeflossen, deren Werk schmal und doch so groß ist.

57 Gedichte hat Selma Merbaum aus Czernowitz hinterlassen: "Das sind so zärtliche Wortgebilde, die Selma bemüht, die könnte man nicht einsetzen, wenn man nicht die immerwährende Hoffnung hatte. Und die hat man auch im Umgang gemerkt mit anderen Jugendlichen", so die Biografin Marion Tauschwitz, die mit diesem Buch mehr vorlegt als nur eine Neuausgabe. Das Bild einer sprachbegabten und vor allem lebensbejahenden Frau wird noch plastischer, vollständiger.

Die Jugendlichen von damals wissen von dieser hoffnungsfrohen Seite einiges zu berichten. Sie erzählen der Biografin, "wie Selma sie aus ihrer Lethargie herausgerissen hat, wenn sie vor die Häuser gegangen ist und gepfiffen hat: 'Kommt raus, wir machen jetzt einen Spaziergang ohne Judenstern. Wir gehen im Schutz der Dunkelheit, der Nacht.' Und da gibt es dann auch Bilder: 'Ich bin die Nacht.'"

Zu Hause in Czernowitz

Selma Merbaum kam 1924 in Czernowitz zur Welt. Die Stadt gehörte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu Rumänien und wurde ein bedeutender Ort der deutschsprachigen Literatur. Rose Ausländer stammte aus der Stadt, ebenso Paul Celan, Selma Merbaums Cousin.

Die jüdischen Einwohner von Czernowitz waren wiederholt antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden sie systematisch ausgegrenzt, bedroht und verfolgt. Es gab Pogrome und Mordaktionen. Das Schreiben ist angesichts dieser Erfahrungen auch als Schutzraum zu verstehen.

Marion Tauschwitz formuliert das so: "Es hat sich einfach gezeigt, dass Lyrik ein Bollwerk war gegen unlebbar gewordene Wirklichkeit. Und dass es quasi, wie Rose Ausländer das beschrieben hatte, ein Zaubergarten der Worte war, in den man flüchten konnte und in dem man sich vor der Realität verbergen konnte. Trotzdem kam natürlich die grausame Realität immer wieder mit hinein."

"Blütenlese", der handgeschriebene Gedichtband

57 Gedichte hat Selma Merbaum hinterlassen, als Handschrift für einen engen Freund aus der Zionistischen Jugendgruppe "Hashomer Hazair". Sie nannte die Sammlung "Blütenlese".

Sie spiegelt immer wieder Naturerfahrungen, nimmt Abendszenen, Frühlingsbilder oder Regentage in den Blick, reflektiert über Trauer und Hoffnung und ebenso über Zeiterfahrungen. Das alles, so zeigt ihre Biographin Marion Tauschwitz, in einer immer wieder besonderen Sprache, voller existentieller poetischer Bilder.

"Ich möchte leben / Schau, das Leben ist so bunt", heißt es in Selma Merbaums Gedicht "Poem", entstanden in den Tagen eines Massakers gegen die jüdische Bevölkerung im Juli 1941 in Czernowitz.

Ein knappes Jahr später wurde die junge Frau von den Rumänen in das Lager am Bug deportiert, Mitte August dann in das Zwangsarbeiterlager Michailowska. Selma Merbaum erkrankte dort an Fleckfieber und starb völlig entkräftet am 16. Dezember 1942.

Ihre Gedichte wurden gerettet – und können mit der Biographie von Marion Tauschwitz einmal mehr in ihrer großen Tiefe erschlossen werden.

Marion Tauschwitz‘ Biographie "Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben" ist im zu Klampen-Verlag erschienen. Der Band enthält auch die Gedichte von Selma Merbaum. Er hat 350 Seiten und kostet 24 Euro.

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