Nein, jetzt kein „Gleich drei Mal Suhrkamp“ und „Nur zwei Frauen, aber vier Männer“-Gerede. Das ist langweilige Proporz-Prosa, die das Wesentliche übersieht. Diese Shortlist ist eine sehr gute. Das kann selbst der sagen, der bisher nur drei der sechs nominierten Romane kennt. Franzobels „Das Floß der Medusa“ etwa ist ein historischer Roman, der uns nicht allein zu Zuschauern eines Schiffbruchs werden lässt, sondern der uns von einer geschichtlichen Tragödie aus dem Jahr 1816 so erzählt, wie Quentin Tarantino sie auf die Leinwand bringen würde: blutig, mutig und streitbar in den vielen, in unsere Gegenwart reichenden Analogien. „Wie macht man aus Katastrophen Kunst?“, hat Julian Barnes mit Blick auf die verheerende Havarie der Fregatte Medusa in seiner „Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“ gefragt. Die Antwort lautet: ziemlich genau so wieʼs der 50jährige Österreicher Franzobel getan hat. „Das Floß der Medusa“ ist eine kluge inverse Fluchtgeschichte – hier stranden Franzosen an den Gestaden des Senegal, so wie heute Afrikaner an Europas Küste.
Der schwarzhumorige Erzähler aus Österreich
Nicht minder verdient steht ein weiterer Österreicher auf der Liste der letzten Sechs: Robert Menasse. Der 63jährige beweist mit seinem im Hier und Heute - 2017 - in Brüssel spielenden Roman „Die Hauptstadt“, dass die Literatur in Zeiten der großen europäischen Identitätskrise am ehesten jenes „Narrativ“, jene Erzählung von der europäischen Idee liefern kann, die die Politik uns schuldig bleibt. Da es am Rande bei Menasse um Robert Musil und dessen „Mann ohne Eigenschaften“ geht, muss man sagen: „Das hilflose Europa“, von dem Musil 1922 schrieb, hat in Robert Menasse einen hellsichtigen schwarzhumorigen Vivisekteur gefunden.
Lange gesucht und endlich gefunden
In eine ganz andere Weltgegend, nach Asien nämlich, reist die Hauptfigur im dritten uns bekannten nominierten Werk: „Die Kieferninseln“. Ein so komisches wie tiefgründiges Buch. Marion Poschmann lässt uns Leser darin einen deutschen Pogonologen, vulgo: Bartforscher durch das Japan unserer Tage begleiten. Im Gepäck hat dieser Sinnsucher und poetische Pilger Gilbert Silvester die Schriften des Dichters Matsuo Basho und an seiner Seite einen jungen japanischen Selbstmörder, dem der Suizid ein ums andere Mal misslingt. Kurz wie ein Haiku ist dieses schmale Buch, gerade mal 166 Seiten, voller Witz und Weisheit, wie sie in dieser Mischung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur lange gesucht werden müssen. Zum zweiten Mal bereits ist die 47jährige Marion Poschmann Finalistin beim Deutschen Buchpreis. Was soll da erst Thomas Lehr sagen, der schon zum dritten Mal auf der Shortlist steht? Wird der 59jährige mit seinem Mammutroman „Schlafende Sonne“ im Oktober abermals leer ausgehen so wie der im vergangenen Jahr ebenfalls zum dritten Mal nominierte Kandidat Thomas Melle? Und worum geht’s in „Romeo oder Julia“ vom 66jährigen Gerhard Falkner? Muss man, kann man, will man jetzt alles nachlesen, so wie auch das hochgelobte Debüt der gerade mal 32jährigen Sasha Marianna Salzmann: „Außer sich“. Ach so, und was den Ausgang der ganzen Preisfindung anbetrifft, da halten wir es mit dem ersten Satz aus Sasha Marianna Salzmanns Roman: „Ich weiß nicht, wohin es geht, alle anderen wissen es, ich nicht.“