Paar, durch eine leeren Stuhl getrennt an einem Tisch sitzend
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Paaran einem Tisch

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Wie der Kapitalismus Liebe und Sex verändert

Die israelische Soziologin Eva Illouz beobachtet den Markt der Emotionen seit Langem. Ihr neues Buch "Warum Liebe endet" nimmt sich das große Gefühl vor und zeigt, wie es zur Ware geworden ist. Diese lässt sich am besten über "Sexyness" anpreisen.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

"An sich ist […] die Erfahrung, zurückgewiesen zu werden, nicht neu. Sie nimmt jedoch heute den Charakter eines erheblichen und praktisch unvermeidlichen Bestandteils des Sexual- und Liebeslebens vieler, wenn nicht der meisten Menschen, an." Fast am Ende ihrer monumentalen soziologischen Untersuchung in Sachen Liebe – bzw. "Nichtliebe" – steht dieses nüchterne Fazit von Eva Illouz. Aber: Was wäre die Weltliteratur, was wäre die Liebe ohne das Wechselspiel der Gefühle, ohne Abschied und Annäherung – Grunderfahrungen, seit es Menschen gibt?

Freiheit und Ökonomie

Eva Illouz geht in ihrer Argumentation weit zurück: Zum "Liebeswerben der Vormoderne", zu den romantisch-rituellen Gepflogenheiten, die dem potenziellen Paar zwar wenige Freiheiten, dafür aber gesellschaftliche Gewissheiten boten. Dieser stabile Rahmen hat sich seit den 1970ern grundlegend verändert, schreibt Illouz – durch den "moralischen und institutionellen Siegeszug der Freiheit". Allerdings versteht sie unter Freiheit nicht das "glanzvolle moralische Ideal, das den Leitstern der demokratischen Revolution bildet".

"Die Freiheit, in deren Namen Frauen und Homosexuelle gegen das Patriarchat gekämpft haben und weiterkämpfen, ist eine andere als die, bei Livesex in Webcam-Räumen mitzumachen – letztere Freiheit verfolgt keine politischen oder moralischen Interessen, allenfalls ökonomische oder solche der Selbstbespiegelung", schreibt Illouz. "Was wie eine schrittweise Befreiung von der Religion wirkt, war die Folge mächtiger ökonomischer und kultureller Kräfte, die allmählich und unmerklich die Bedeutung der Sexualität veränderten."

Der Warencharakter von Erotik und Emotion

Da ist sie, die These. Die Soziologin macht die kapitalistische Gesellschaft und die zunehmende Technologisierung verantwortlich für eine gravierende Veränderung: Heute wird die Liebe wie jede Art von verbindlicher Beziehung beeinflusst von den Gesetzen des Marktes, und sie wird selbst auch auf einem stark konkurrierenden Markt angeboten, ausagiert und konsumiert. Dating-Portale im Internet und diverse Sex-Apps tragen für Eva Illouz entscheidend bei zum beliebig austauschbaren Warencharakter erotisch-emotionaler Begegnungen: Wählen und verwerfen – Daumen nach oben, Daumen nach unten, Wischen nach rechts, wischen nach links, wie bei "Tinder". Die Akteurinnen, die Konsumenten sind ständig am Bewerten und werden ihrerseits bewertet: "Vor diesem Hintergrund avancierte die Sexualität auch zu einer neuen Form von Status und Kompetenz." Verlieh das zuvor egalitäre Ideal der Jungfräulichkeit soziales Ansehen und Wert, würden nun "Sexyness" und "sexuelle Leistungsfähigkeit" zu Signalen der eigenen Position in sexuellen Feldern mit ungleich verteilten Formen von Rang und Status.

Hier führt Eva Illouz den Begriff des "skopischen Kapitalismus" ein. Das Wort ist abgeleitet vom altgriechischen "skopein", was so viel heißt wie "betrachten", für Illouz ist diese Art des Kapitalismus dadurch definiert, dass er aus dem Spektakel und der Zurschaustellung von Körpern einen Mehrwert bezieht". Einen Mehrwert nicht nur durch die Vermarktung der sog. "Sexyness", die mit Hilfe von Konsumartikeln hergestellt und optimiert wird, sondern auch ihrer Begleitindustrie: den zahlreichen Ratgebern, Selbsthilfeblogs und den endlosen Therapieangeboten, die die zunehmend orientierungslosen Subjekte und Objekte auffangen und unterstützen: "Die Offenheit der Beziehungen bringt sowohl die expressive als auch die instrumentelle Dimension des Handelns aus dem Lot, und lässt die Akteure verwirrt zurück", heißt es bei Illouz. "Weil die Sexualität unter diesen Bedingungen seriell und mit offenem Ausgang gelebt wird, verändern sich die soziologischen Grenzen der Beziehungen, […] wobei ihre Ziele verschwommen bleiben."

Das "Entlieben" als Schutz vor der Ungewissheit

Um sich zu schützen, um die eigene Würde zu bewahren, aber auch, um eine persönliche Selbstoptimierung voranzutreiben, wählen Frauen und Männer zunehmend "negative Bindungen", das heißt, sie sind nicht in der Lage, Beziehungen aufzubauen, diagnostiziert Eva Illouz. Enorm hohe Ansprüche durch ständiges Vergleichen führen damit immer häufiger zu Trennung, zum sogenannten "Entlieben", zur Nichtwahl – denn die "Nichtbeziehung" biete Schutz in einer Situation, die Illouz als "ontologische Ungewissheit" bezeichnet: "Der sexualisierte Körper ist zum Schauplatz und zur Quelle der Selbstbeschädigung durch die Antizipation der Bewertung anderer, ihrer Bezugnahme auf Ideale körperlicher und seelischer Perfektion und auf eine drohende Abwertung geworden. [...] Die ontologische Ungewissheit rührt von der Schwierigkeit her, an einem Selbstwertgefühl und Identitätsbewusstsein festzuhalten, das der eigenen Verfügbarkeit für den Blick, für die sexuelle Aneignung durch andere und für die Instrumentalisierung durch Sex 'widersteht'."

Ihre detaillierte, sich konsequent entfaltende Analyse stützt Eva Illouz mit geisteswissenschaftlichen und soziologischen Untersuchungen. Parallel zitiert sie ausgiebig aus aktuellen Zeitschriften, Romanen, Filmen, Blogs und Interviews – eine Fülle von Belegen, die vor allem die eigene These vom Ende der Liebe verifizieren soll. Aber: Noch immer gibt es eine freie Wahl. Nicht alle Menschen nutzen Dating-Foren, um ein Gegenüber zu finden. Und manche der Nutzer und der Nicht-Nutzer leben auch heute in stabilen, manchmal sogar auch glücklichen Liebesbeziehungen.

"Warum Liebe endet" von Eva Illouz ist im Suhrkamp Verlag erschienen.

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