Eine junge Frau mit Locken schaut in die Kamera, sie tanzt eng mit einem jungen Mann, der nur von hinten zu sehen ist.
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In Ruhpolding waren Ende der 50er-Jahre 60 Prozent der Gäste Frauen. Das Kurhaus zog junge Männer aus der ganzen Gegend an.

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"Das sündige Dorf": Das Kurhaus Ruhpolding und die Pauschalreise

Das beschauliche Ruhpolding war mal "das sündige Dorf" und so etwas wie der Ballermann des Chiemgaus. Als Mittelpunkt des Wirtschaftswunder-Partytourismus galt das Kurhaus mit seinen Tanzveranstaltungen. Jetzt wird es wahrscheinlich abgerissen.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 am Sonntagvormittag am .

"In Ruhpolding ist gar nichts mehr los", seufzt Helmut Müller. Wenn die Enkel des ehemaligen Tourismuschefs des Alpendorfs am Wochenende etwas erleben wollen, fahren sie nach Salzburg. "Früher sind die zu uns gekommen“. Bis in die 80er-Jahre hinein ging es im Ruhpoldinger Kurhaus rund: Das große weiße Gebäude im alpenländischen Stil war das Zentrum der beliebten Pauschalreisen nach Ruhpolding – also quasi: der Ballermann des Chiemgaus. Nun wird die Gemeinde das Grundstück verkaufen, das Kurhaus wird wahrscheinlich abgerissen. Dafür haben sich die Ruhpoldinger in einem Bürgerentscheid ausgesprochen.

Sonderzüge bringen Hunderte Gäste

Helmut Müller hat in einer Bürgerinitiative für den Erhalt des Kurhauses gekämpft. Die Geschichte, wie Ruhpolding zur Wiege des Pauschaltourismus in Deutschland wurde, ist auch seine eigene. Als Bub holte er in den 50er-Jahren die Gäste seiner Eltern aus den Sonderzügen vom Bahnhof ab. Mitte der 50er zählte Ruhpolding um die 600.000 Übernachtungen pro Jahr. Später verbrachte Müller die Abende im Kurhaus, irgendwie kam man da als Einheimischer immer kostenlos hinein. "Das war ja auch wichtig. Da waren viele Tänzerinnen und die brauchten Tänzer."

Urlaub für 141 Mark

1956 kostete eine neuntägige "Gesellschaftsreise" nach Ruhpolding im günstigsten Zimmer 141 Mark –inklusive Zugfahrt, Übernachtung, Verpflegung und Programm. "Das kann man schon mit Mallorca vergleichen", sagt Helmut Müller. Als Chef des Verkehrsamts von 1968 bis 1990 hat er die fetten Jahre des Massentourismus in Ruhpolding mitgestaltet. "Das waren die gleichen Menschen und Bedürfnisse." Tagsüber erkundeten die westdeutschen Großstädter im Schutz der Reisegruppe die fremde bayerische Kultur und Landschaft. Abends floss das Bier in Strömen und schunkelnd entschwand der letzte Gedanke an den gerade durchlebten Krieg.

Der "Gott der Ruhpoldinger" ist ein Berliner

Der Kopf hinter dem Ruhpoldinger Erfolgsrezept war der Berliner Reiseunternehmer Carl Degener, der "Gott der Ruhpoldinger". In den 1930er-Jahren boomen seine "Gesellschaftsreisen" nach Österreich. Als die Nazis im Mai 1933 kurzfristig eine Art Sondersteuer für das Nachbarland einführen, die 1.000-Mark-Sperre, kommt Degener durch Zufall auf das verschlafene Dorf Ruhpolding. Der heimische Verkehrsverein organisiert in Windeseile Betten und Abendprogramm. Degener will wiederkommen, unter einer Bedingung: "Ich brauche einen Saal", soll er gesagt haben, und die Ruhpoldinger bauen in nur einem Winter ihr Kurhaus.

Der Saal ist ein Alleinstellungsmerkmal in der Region. Jeden Abend ist hier im Sommer Programm: Heimatabend mit Schuhplattler, Sketche, Tanz, Musikkapellen, Varieté mit allen großen Stars der Nachkriegszeit. "Siegfried und Roy waren in ihrer Anfangszeit mit ihren Geparden fast alle zwei Wochen da. Damals sind die, überspitzt gesagt, noch für einen Leberkas und eine halbe Bier aufgetreten", erinnert sich Helmut Müller.

Hotspot für Junggesellinnen

Damit unterscheidet sich Ruhpolding von anderen Fremdenverkehrsorten der bayerischen Alpen. Auch nach Berchtesgaden, Bad Reichenhall und Garmisch-Partenkirchen strömen nach dem Krieg die Gäste. Die Westdeutschen suchen mit vom Wirtschaftswunder gefüllten Geldbeutel Idylle und Erholung. Bereits 1951 verzeichnet die Region Berchtesgaden über 800.000 Übernachtungen, Garmisch-Partenkirchen fast 400.000. Doch hier hat der Tourismusboom schon deutlich früher angefangen, die Stimmung ist gediegener als in Ruhpolding. Ehepaare, die die Ruhe der Berge suchen, dominieren das Bild.

In Ruhpolding sind Ende der 1950er-Jahre 60 Prozent aller Pauschalreisenden Frauen, viele davon berufstätig und alleinstehend. Historiker wie Historiker Christopher Kopper gehen davon aus, dass das unter anderem an der unkomplizierten Buchung lag, wie er in seinem Aufsatz "Die Reise als Ware" schreibt. Die Frauen ersparten sich die kritischen Blicke der Hoteliers, die geordnete, verheiratete Lebensweisen bevorzugten.

Ferienflirts im Kurhaus

Das wissen auch die jungen Burschen aus der Region. "Die standen schon am Bahnhof und haben geschaut, wo die hübschen Damen wohnen", erzählt Helmut Müller. Abends ging es dann ins Kurhaus zum "Berlinern", sprich: Mädchen aufreißen. Die Ruhpoldingerinnen reagierten pikiert, schmunzelt Müller. Und der Pfarrer sorgte sich um den Ruf Ruhpoldings als "das sündige Dorf". Doch bei vielen bleibt es nicht beim Ferienflirt: Interkulturelle Ehen entstehen, auch Müllers Onkel heiratet eine Berlinerin.

Bis Ende der 80er dauern die goldenen Zeiten des Kurhauses. Anfang der 2000er brechen die Übernachtungszahlen ein. Flüge werden billiger, die Urlaubsbedürfnisse ändern sich. Inzwischen lebt Ruhpolding wieder sehr gut von seinen Gästen. 2019 zählte man knapp 670.000 Übernachtungen. Doch der Tourismus hat sich verändert, sagt Helmut Müller. Die Gäste sind älter geworden, ihre Wünsche individueller. Und die großen Schlagerstars treten nicht mehr in Ruhpolding, sondern auf dem Ballermann auf.

Tafel am Waggon mit Beschriftung "Hamburg-Altona Ruhpolding"
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Das waren noch Zeiten, als die Züge aus Hamburg nach Ruhpolding fuhren.

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