Ukraine, Kiew: Ein Mann geht an einem Gebäude vorbei, das nach einem Raketenangriff beschädigt wurde. Russische Truppen haben am Donnerstag, 24.02.2022, den erwarteten Angriff auf die Ukraine gestartet
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Kiew nach einem Raketenangriff

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Putins Krieg und das Gefühl der Ohnmacht

Der Angriff auf die Ukraine bewegt viele Menschen; besonders wenn sie ukrainische Wurzeln haben. Julia Smilga kommt aus Sankt Petersburg. Die Wurzeln ihrer Familie sind ukrainisch-jüdisch. Hier beschreibt sie die Gefühle, die ihre Familie durchlebt.

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Bombenflugzeuge über Kiew – das war früher oft meine Gute-Nacht-Geschichte. Als Kind wollte ich von meinem Vater immer wieder hören, wie er sich im Sommer 1941 in Kiew mit seinen Eltern Schutz im Bunker suchte, wie er den dumpf-jaulenden Klang der deutschen Flugzeuge beschrieb…

Vielleicht wollte ich es hören, weil ich wusste, dass die Geschichte am Ende gut ausgeht. Meine Großmutter wird rechtzeitig mit meinem damals vier Jahre alten Vater aus Kiew fliehen können, sie werden den Zweiten Weltkrieg in einem Dorf im Ural überleben – und ich werde dann irgendwann auch auf die Welt kommen. Nicht in Kiew, sondern in Leningrad, heute Sankt Petersburg, wohin meine Großmutter nach dem Zweiten Weltkrieg gegangen ist. Im Herbst 1941 fiel mein Großvater bei der Verteidigung Kiews, Oma wollte nicht mehr in diese Stadt zurück.

Russische Bomben auf Kiew

Kiew blieb aber für immer eine Art Mythos in unserer Familie – da gab es entfernte Verwandte, dorthin reiste mein Vater immer wieder auf den Spuren seiner Kindheit. Mittlerweile ist er 84 Jahre alt: Als ich ihn am Donnerstag in seiner Münchener Wohnung anrief, hat er nur geweint. "Bombenangriffe auf Kiew!"- wiederholte er immer wieder, "dass ich das noch mal erleben muss! Und wer greift an? Die Russen! Was für ein verrückter Scheißkerl dieser Putin ist."

Putins Unterdrückung der Demokratie

Meine Familie hat Russland 1997 verlassen - mitten im wirtschaftlichen Chaos, das der damalige Präsident Boris Jelzin angerichtet hat. Putin kam drei Jahre später an die Macht. Von Anfang an, zuerst vorsichtig, dann offensiv, begann er die demokratische Entwicklung Russlands zu unterdrücken und seine eigene Macht auszubauen. Als erstes hat er fast alle russischen Medien gleichgeschaltet, dann einen Informationskrieg mit Fakenews und Propaganda gegen die ganze Welt angefangen, mittels des eigens dafür erschaffenen Fernsehkanals RT. Wie viele oppositionelle Politiker und unabhängige Journalisten wurden während seiner Regierung ermordet, vergiftet oder in Gefängnisse gesteckt ...

Das deutsche Desinteresse

Doch davon, so mein Eindruck, wollten viele in Deutschland nichts wissen. Bis zur Pandemie habe ich mehrmals im Jahr deutsche Reisegruppen in Russland begleitet. Dabei habe ich in letzter Zeit immer öfter deutsche Gäste getroffen, die Putin bewunderten. Ich habe auch erlebt, dass ein Reisegast sich bei der Busfahrt Ohrstöpsel anlegte, um ja nicht meine Ausführungen über die tatsächliche politische Lage in Russland hören zu müssen.

Für mich steht dieser Mann symbolisch für Deutschland, wenn es um Russland geht. Statt die Realität wahrzunehmen, hält man sich lieber die Ohren zu. Statt dringend benötigter Waffen kriegt Ukraine 5.000 Helme von Deutschland; Solidaritätsbekundungen inklusive.

Traumatische Erinnerungen werden wach

Angela Merkel hat einmal über Putin gesagt, er habe wenig Kontakt zur Realität und lebe in seiner eigenen Welt. Nicht nur Putin, auch Deutschlands Politik lebte bis vor kurzem in einer Fantasiewelt. Russische Bomben auf Kiew haben diesen Traum beendet. Die Gute-Nacht-Geschichte meines Vaters ist nun für mich zur grausamen Realität geworden.

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