Das Schwabencenter in Augsburg: Drei riesige Blocks, jeder hat 20 Stockwerke. Hier wohnt Karin Martin. Ganz bewusst ist die 74-Jährige vor vier Jahren hierhergezogen. Apotheke, Supermarkt, alles da. Nur keine Freunde.
Einsamkeit ist wie eine Krankheit
"Woher kommt das?“, fragt sie sich. "Vielleicht, weil man in all den Jahren so individuell geworden ist.“ Die Anonymität der Stadt, manche verzweifeln daran. Es gibt Studien, wonach Einsamkeit in etwa so schädlich ist wie Rauchen oder Fettsucht was die Sterblichkeit anbelangt.
Karin Martin wird aktiv. An ihrer Tür klebt ein roter Punkt. Der "Opendot“, so groß wie ein Bierdeckel. „Damit jemand, der vorbeigeht, weiß, hier kann ich mal läuten, wenn ich mal das Bedürfnis hab, mit jemandem zu reden oder einen Kaffee zu trinken“, erklärt Karin Martin.
Ein Ministerium für Einsamkeit
In ganz Augsburg werfen Künstler anlässlich des städtischen Friedensfestes diesen Punkt in Briefkästen – samt Erklärung, was er bedeutet. Das Ziel: Aufrütteln, Bewusstsein schaffen. Anderswo sei man schon weiter. Die Briten haben inzwischen ein eigenes Ministerium für die Einsamen und ihre Belange.
Und in Deutschland? Hier gibt es Menschen wie Lisa Schuster. Für die Arbeiterwohlfahrt hat sie sich drei Jahre lang um das Viertel gekümmert. "Wie soll ich nur an diese Menschen rankommen“, fragt sie sich, als sie das erste Mal in der Einkaufspassage des Centers steht. Sie trifft Trinker, viele hat die Einsamkeit depressiv gemacht.
Leise Kritik am roten Punkt
Ihr Rezept waren unzählige Gespräche. Und das Glück, dass das Center-Management sie unterstützt. Eine der leeren Ladenflächen wird zum Treff für alle Bewohner. Und jeder kann sich einbringen. Es gibt Kartenspiel-Runden, Italienisch-Kurse, Häckel-Treffs.
Was denkt sie über den roten Punkt? "Im Prinzip ist das eine gute Sache. Aber man muss mit den Leuten reden, ihnen das Konzept nahebringen. Die Punkte nur in den Briefkasten werfen reicht nicht. Allein schon, dass die Erklärung nur auf Deutsch ist.“
"Es gibt viele Alkoholiker"
Dass ihre Kritik berechtigt ist, zeigt ein Blick auf die Etagentüren. Kaum jemand hat den Punkt geklebt. Die meisten haben Angst, wer vor der Haustür stehen könnte. "Es gibt viele Alkoholiker hier“, sagt eine Frau.
Ein 89-jähriger Mann ein paar Stockwerke höher findet das Konzept dagegen gut. Er ist sogar bereit, bei Karin Martin zu klingeln. Nur ein paar Minuten später sind die beiden in ein Gespräch vertieft. Zum Trinken gibt es Cola. "Es wäre schön, wenn wir uns öfter sehen würden“, sagt Karin Martin. Hier hat der Punkt gewirkt.