Doschd
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Der Internet-Fernsehsenders Doschd

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Wie russische Medien (nicht) über den Ukraine-Krieg berichten

Unabhängige Medien müssen schließen. Wer weiter berichten will, darf nicht von Krieg sprechen. Ergebnis: Die Invasion der Ukraine wird in Russland mehrheitlich befürwortet. Christine Hamel über die jahrelange mediale Lenkung eines Volks.

Natalja Sindejewa kämpft mit den Tränen. Die Gründerin des unabhängigen Internet-Fernsehsenders Doschd verkündet dessen vorläufiges Aus. Der mit vielen Medienpreisen ausgezeichnete sogenannte "Optimistic Channel Doschd" musste auf Druck der russischen Staatsanwaltschaft seine Arbeit einstellen, Chefredakteur Tichon Dsjadko hat Russland am Samstag verlassen. "Eine so schwere Entscheidung haben wir in unserem Leben bisher nicht treffen müssen", sagt Natalja Sindejewa in einem Abschiedsvideo, das die Doschd-Mitarbeiter auf ihren You-Tube-Kanal gestellt hatten. Am Samstag ordneten Polizisten, die in die Redaktionsräume kamen, auch die Löschung dieses Videos an: wegen vermeintlich "extremistischer Inhalte".

Wer von Krieg spricht, gilt als Extremist

Extremistisch sind in Russland nicht nur derjenigen, die ihre Stimme gegen den Krieg erheben, sondern auch diejenigen, die den Krieg beim Namen nennen. Präsident Wladimir Putin hat Freitagabend ein neues Gesetz unterschrieben, das bis zu 15 Jahre Haft vorsieht für die Verbreitung angeblicher "Falschinformationen" über die russischen Streitkräfte. Strafen drohen allen, die öffentlich die Armee "verunglimpfen". Betroffen sind Mediasona, Meduza, Nowoe Wremja, die Nowaja Gazeta, die nicht mehr das Wort "Krieg" druckt, aber über die brutalen Festnahmen bei Protesten berichtet. Dazu kommen: Znak, Snob, das Online-Kulturportal Colta der Dichterin Maria Stepanowa, Republic, The Village, Bashnej Istorii und 7x7. Die staatlichen Zensoren bestehen dabei auf dem Euphemismus einer militärischen "Spezialoperation", Begriffe wie "Invasion", "Angriff" oder "Kriegserklärung" sind verboten. Unklar ist bisher, ob die Regelung auch für ausländische Journalisten gilt. Zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Intellektuelle haben am Wochenende aus Angst vor Repressionen Russland verlassen. Die Schriftstellerin Alissa Ganijewa ist nach Estland geflohen: Sie habe nicht mehr abwarten wollen, bis die Polizei vor ihrer Tür stehe. Der Schriftsteller Maxim Osipow floh nach Armenien, der Politologe Kiril Rogow nach Istanbul.

Verzweifelter Appell: "Sprechen Sie mit den Russen!"  

Auch Russlands ältester unabhängiger Rundfunksender Echo Moskwe musste seine Arbeit samt Website auf Druck der Behörden inzwischen einstellen. Unter dem Hashtag "Skip Putin" richteten Autorinnen und Autoren, darunter Vladimir Sorokin, Ljudmila Ulizkaja, Swetlana Aleksijewitsch oder Maria Stepanowa daraufhin einen Appell an Russischsprechende in aller Welt: "Gerade jetzt ist es wichtig, den russischen Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit über die russische Aggression gegen die Ukraine zu offenbaren", heißt es da. Und weiter: "Dieser ungerechte Krieg muss gestoppt werden. Sprechen Sie mit den Russen."

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Verhaftungswelle in Russland

Laut offizieller Umfragen sind 65 Prozent der Russen für den Krieg gegen die Ukraine. Der Journalist Timur Olewskij sieht hier ein über Jahre aufgebautes Feindbild am Werk. Olewskij hatte für den Fernsehsender Doschd 2014 und 2015 über den Krieg im Donbass berichtet. "Ich erinnere mich noch an den Geschichtsunterricht", erzählt er. "Es wurde immer gelehrt, dass die Westukrainer Kollaborateure der Faschisten sind und sich davon nie distanziert haben. Die Deutschen sind besiegt worden und haben ihre Schandtaten bereut, aber die Ukrainer haben nie etwas bereut. Als der Tag des Sieges über Hitlerdeutschland vom Kreml zu einem alles überragenden Feiertag aufgeplustert wurde, entstand das Feindbild der Westukrainer wie von selbst. Es liefen schon ununterbrochen Kriegsfilme, als es noch nicht den kleinsten Hinweis auf einen möglichen Krieg zwischen Russen und Ukrainern gab. In diesen Filmen wurden die Westukrainer immer nur als Verbündete der Faschisten gezeigt. Das ist geradezu spielerisch aus der kulturellen Sphäre in eine kriegerische gekippt. Und erstaunlicherweise hat das überhaupt keinen Anflug von Unbehagen bei den Russen ausgelöst."

Jahrelange Vorbereitung auf den Krieg

Schon seit vielen Jahren herrscht in Russland eine Atmosphäre aggressiver Einigkeit. Die systematische Propaganda hat ein durch und durch verfinstertes Weltbild entworfen, in dem es nur eine Lichtgestalt gibt: Russland. Russland ist auf der Seite der Moral, der Anständigen, der weder durch Geld noch durch Loveparades Korrumpierten und Degenerierten und derjenigen, die sich um Ihresgleichen kümmern und einen vermeintlichen Genozid an Russen verhindern.

"Die Ukraine, die sich für einen europäischen Weg entschieden und sich auf eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern eingelassen hat, so sehen das die Russen, hat ihren älteren Bruder, also Russland, verraten", erklärt Olewskij. "Daher rührt diese Wut und diese Selbstgerechtigkeit der Russen. Die Leute sind losgezogen, um gegen Ukrainer zu kämpfen, mit denen sie bis vor kurzem noch befreundet waren."

Nicht wissen oder nichts wissen wollen?

Nicht erst jetzt, schon seit Jahren werden russische Fernsehzuschauer mit lügenhaften Erzählungen umsponnen, wodurch Fakten ihre Realität einbüßen. Viele Russen glauben tatsächlich, dass sich die sogenannte "Spezialoperation" auf den Donbass beschränkt, wo ein Krieg gegen Faschisten tobt. Von Ukrainern, die sich mit aller Macht gegen russische Panzer stemmen, von Bomben in Wohnhäusern und Kindergärten in Charkiw und Kiew wissen sie nichts. Und viele Russen wollen davon auch nichts wissen.

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