Kinder mit Kopfschmuck und Federn und Cowboyhut spielen Indianer und Cowboy
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Kinder spielen Indianer und Cowboy.

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Wieso wir eine Ethik der Aneignung brauchen

Blackfacing geht gar nicht, aber Indianderspielen doch? Jens Balzer erzählt, wie schwer man festmachen kann, wo lebendige Aneignung aufhört und Missachtung des Anderen beginnt. Daher sollten wir eine "Ethik der Aneignung" entwickeln.

Das Cambridge Dictionary definiert Cultural Appropriation als "Verwenden von Elementen einer Kultur, die nicht die eigene ist, vor allem ohne dabei zu zeigen, dass man diese Kultur verstanden hat und respektiert“. Ein klassisches Beispiel: weiße Menschen, die Rastalocken tragen, schlicht weil es cool ist. Problematisch. Etwas kniffliger die Frage, wenn zum Beispiel europäische Musiker Afrobeats verwenden dürfen. Ein Gespräch mit dem Publizisten, DJ und Autor Jens Balzer, der sich an einer Ethik der Appropriation versucht.

Christoph Leibold: Gibt es aus Ihrer Sicht etwas, was man im Blick auf die Definition von kultureller Aneignung als "Verwenden von Elementen einer Kultur, die nicht die eigene ist" ergänzen, präzisieren müsste?

Jens Balzer: Nein, das ist ja die Definition, wie sie gerade am gängigsten ist. Ich finde, darin zeigen sich aber auch schon die Probleme, über die man reden muss, wenn man über kulturelle Aneignung redet. Wir haben ja gesagt, es geht darum, dass man sich die Erzeugnisse einer Kultur aneignet, die nicht die eigene ist, die man vielleicht auch gar nicht in ihrem vollen Wert irgendwie zu würdigen weiß. Und dann erhebt sich die Frage: Was ist das eigentlich eine Kultur und wie kann man daran so etwas wie Eigentumsrechte erwerben? Es gibt noch eine zweite Definition, die auch sehr gängig ist von Susan Scafidi, eine Juristin aus New York, die Anfang der Nullerjahre diese Debatte mitgeprägt hat. Da ging es tatsächlich um sowas wie Eigentumsrechte an kulturellen Traditionen. Was ist überhaupt eine mit sich identische kulturelle Tradition? Und wer kann beanspruchen, darauf Eigentum zu haben und wer nicht? Das sind Fragen, die man stellen muss, auch in systematischer und ethischer Weise, wenn man sich über dieses Thema verständigt.

Bleiben wir aber erstmal auf dieser negativen Seite, mal ein Beispiel: Ich bin derselbe Jahrgang wie Sie und in unserer Generation – bei mir jedenfalls war das so – da gehörte es in den Siebzigern noch dazu, dass man sich z.B. rot geschminkt hat und als Indianer zum Kinderfasching gegangen ist. Jetzt sagen viele Leute heute: Na ja, ein bisschen rote Schminke im Gesicht, Federschmuck auf dem Kopf … das ist ja eine unschuldige Kinderspielerei. Wieso ist es möglicherweise nicht so einfach?

Naja, es gab ja gerade hier bei uns in Berlin den Fall der Spitzenkandidatin der Berliner Grünen, die auf dem Parteitag befragt wurde, was sie als Kind werden wollte und da hat sie Indianerhäuptling gesagt. Da gab es große Empörung, die entsprechende Passage musste aus den Dokumenten, aus den YouTube-Aufzeichnungen herausgeschnitten werden. Da denkt man sich natürlich sofort: Ach du liebe Zeit, diese Grünen, diese Verbotspartei, das ist doch alles völlig übertrieben. Da hat man sofort das intuitive Gefühl: Warum soll das nicht erlaubt sein, wenn wir das als Kinder gemacht haben? Aber man muss dann auch gleich mal die Gegenprobe machen, wenn man sich nicht rote Farbe ins Gesicht schmiert, sondern eben schwarze um einen schwarzen Menschen darzustellen, also Blackfacing. Da sind wir uns, glaube ich, mittlerweile weitgehend einig unter halbwegs aufgeklärten Menschen, dass es sich dabei um eine rassistische Praxis handelt, bei der auch sofort eine jahrhundertealte Tradition der Demütigung oder Erniedrigung von schwarzen Menschen inbegriffen ist. Und ich glaube, wenn wir über kulturelle Aneignung/ Cultural Appropriation reden, haben wir immer diese zwei Pole: einmal dieses intuitive Gefühl, man kann doch jetzt nicht alles verbieten. Aber dann auf der anderen Seite, die intuitive Einsicht, dass bestimmte Formen der rassistischen Praxis völlig intolerabel sind. Die Frage ist: Wo verläuft dazwischen die Grenze? Also wie unterscheidet man zwischen guter und schlechter Appropriation?

Und diese Grenze ist eben nicht so eindeutig definiert. Ein Artikel in The Atlantik versucht, ein paar klare Regeln zu formulieren. Eine ist zum Beispiel, Blackfacing ist nie okay. Oder Artefakte aus dem religiösen Kontext als bloße Accessoires zu verwenden, ist tabu. Ist so ein eindeutiger Verhaltenskodex hilfreich? Lässt er sich überhaupt aufstellen oder eben nicht, weil es manchmal nicht so eindeutig ist wie in den genannten Fällen.

Also ich finde so eindeutige Verhaltenskodizes ausgesprochen schwierig. Ich würde eher vorschlagen, dass man sich überlegt, warum wird angeeignet, von wem wird angeeignet und unter welchen kulturellen Vorzeichen. Also die Debatte wird immer geführt: Weiße eignen sich schwarze Kultur an, das ist jetzt so der Klassiker. Weiße eignen sich indigene Kulturen an… Tatsächlich aber gibt es in allen Erzeugnissen der Kultur, auch in der der Schwarzen – ja, gerade auch in der afroamerikanischen Kultur – ihrerseits Aneignungen. Zum Beispiel der HipHop, der ist eine ausgesprochen hybride Form. Und es ist interessant, dass auch in der sogenannten postkolonialen Theorie, die sich in den 80er-, 90er-Jahren entwickelte, sowas wie Hybridität, – Vermischtheit von Kulturen oder auch Kulturen als Vermischung verschiedener Traditionen – und Appropriation als notwendiger vitaler Impuls jeder kulturellen Bildung angesehen wurde. Dass Aneignung ein absolut positiver Begriff war, und man im Gegenteil eher der Ansicht war, dass so etwas wie kulturelle Homogenität, kulturelle Reinheit eigentlich eher zur Seite der Kolonialisten und der weißen Kolonialherren und Postkommunisten gehört.

Also die Frage ist was ist Aneignung und wo ist es Austausch, die uns auch weiterbringt?

Genau. Ist überhaupt eine Kultur vorstellbar, die nicht auf Aneignung und Appropriation beruht? Ich glaube nicht. Wenn man sich dann ansieht, was die problematischen Formen der Appropriation sind, dann sind es immer Versuche einer Kultur, die sich als überlegen begreift oder die auch im Besitz größerer Machtmittel ist, sich bei kulturellen Formen zu bedienen, die irgendwie der archaischen Natur verbundener, authentischer sind. Ich glaube falsche Appropriation, wenn man das mal in so einem starken ethischen Sinne formulieren will, ist immer eine, die suggeriert, es ließe sich sowas wie die natürliche Authentizität wieder aneignen, das, was man im Prozess der Zivilisierung verloren hat. Und richtige Appropriation wäre dann eine, die verstanden hat, dass es sowas wie Authentizität und Originalität gar nicht gibt, sondern dass im Grunde alles, was wir Menschen uns als Kulturen um uns herum entwerfen, immer auf dem Spiel von Aneignung gründet.

Jetzt ist es aber so, dass viele Menschen, die der weißen sogenannten Mehrheits- oder Dominanzgesellschaft angehören, inzwischen gerne klagen: Ja, man weiß ja schon gar nicht mehr, was man sagen oder tun darf. So wie Sie das beschreiben, habe ich es Gefühl, müssen wir das in der Mehrheit der Fälle, wo wir über kulturelle Aneignung diskutieren, aber aushalten: diese Unsicherheit, dass eben nicht alles eindeutig ist und in jedem Fall einzeln neu ausdiskutiert werden muss.

Ja, das muss man doch im ganzen Leben. Also ich glaube, wir brauchen alle ein bisschen mehr Gelassenheit und das ist mal eine Gelegenheit, sich von diesen hysterischen Hashtag-Debatten in den sozialen Netzwerken zu distanzieren. Ich glaube, wir brauchen keinen Katalog der Verhaltensweisen, sondern wir brauchen eine moralphilosophische oder ethische Reflexion auf die Frage: Was tun wir eigentlich, wenn wir aneignen? Und wie werden wir uns darüber bewusst, was die positiven Potenziale sind und wo die Probleme liegen könnten?

"Ethik der Appropriation“" von Jens Balzer ist bei Matthes & Seitz Berlin erschienen, 100 Seiten.

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