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Das Corona-Tagebuch Mein Hygiene-Wahlkampf mit den Nachbarn

Wenn man alleine auf dem Land wohnt, ist das Einhalten der Hygieneregeln total easy. Aber in einem großen Wohnblock in der Stadt muss Vieles mit den Nachbarn diskutiert werden. Das Anliegen, einen Hausflur zu lüften, wird dabei zum Gegenstand diplomatischer Verhandlungen.

Von: Laura Selz

Stand: 14.05.2020 | Archiv

Laura Selz | Bild: Laura Selz

Er ist warm. Er ist stickig. Er riecht nach Blumenkohl. Mein Hausflur. In einem großen Wohnblock mit über 50 Wohnungen. Meine Etage teilt sich in zwei lange Korridore. In der Mitte, im Treppenhaus, ist ein Fenster. Dieses unscheinbare Fenster spielt die Hauptrolle in dieser kleinen Geschichte darüber, wie aus mir eine Hygiene-Wahlkämpferin wurde. Denn eigentlich bin ich ja nicht so. Hygiene-panisch. Nervig. Naja, zumindest dachte ich das.

Ich werde zum Durchlüften-Ultra

Aber erstmal zurück zu diesem Fenster. Wann immer ich an dem Fenster vorbeikomme, öffne ich es. Denn ich mag frische Luft. Das war schon immer so. Aber es war mir noch nie so wichtig wie jetzt. Allein der Hinweis, dass sich Viren über die Atemluft verbreiten können, und in geschlossenen Räumen schweben, macht aus mir einen Durchlüften-Ultra. Aber irgendjemand macht das Fenster immer wieder zu. Und über Wochen hinweg entwickelt sich ein passiv-aggressives Spiel. Ich öffne das Fenster wann immer es zu ist. Und irgendjemand schließt das Fenster wann immer es auf ist. Und zum ersten Mal in meinem Leben schreibe ich einen Zettel an meine Nachbarn und hänge ihn im Flur auf: Liebe Nachbarn. Wärt Ihr einverstanden, dass wir den Flur regelmäßig lüften, und dabei die Durchgangstür zum hinteren Korridor offenlassen? Denn frische Luft und Corona und so weiter und sofort.

Am nächsten Tag steht am unteren Rand meines Zettels in roter, zackiger Schrift: Ich werde doch wohl ein Fenster in meiner Wohnung haben! Das werde ja wohl reichen. Und die Brandschutztür heißt Brand-schutz-tür weil sie vor Bränden schützt. Nun. Der aggressive rote Stift hat Recht. Daran habe ich nicht gedacht. Ich will nicht die Verantwortung dafür tragen, dass wir alle den Feuertod sterben. Ich nehme den Zettel ab und schäme mich in meiner Wohnung. Ich will doch nur lüften.

Es kommt mir vor, als sei ich im Wahlkampf

Es sind ja nur kleine Handlungen, die uns empfohlen werden. Ein bisschen Abstand halten. Ein bisschen Mundschutz tragen. Ein bisschen Händewaschen. Ein bisschen Durchlüften. Warum können wir uns nicht auf dieses Minimum einigen? Warum müssen wir jede minimale Handlung diskutieren? Ich komme mir vor, als sei ich im Wahlkampf. "Wählen Sie jetzt! Durchlüften 2020."

Ich schreibe einen neuen Zettel. Liebe Nachbarn. Seid ihr einverstanden, dass wir tagsüber die Tür auflassen und das Fenster regelmäßig öffnen? Und abends, bevor wir schlafen gehen, machen wir die Brandschutztür zu? Tags darauf hängt ein neuer Zettel neben meinem. Die Schrift deutet auf eine neue Person, die sich jetzt einschaltet. Das mit dem Durchlüften sei schon wichtig, aber wegen der Kindersicherung sollte das Fenster nicht ganz geöffnet werden. Nur gekippt. Das verstehe ich. Und immerhin der Tonfall ist nett, die Schrift wirkt nett, und wer ist schon gegen Kindersicherung. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass ein Kind beschließt, aus dem geöffneten Fenster zu hüpfen. Und wenn wir das Fenster gekippt lassen, ist das schon ein Sieg der Diplomatie.

Ich entwickle Mitleid mit Kommunalpolitikern

Als ich abends im Bett liege und über meinen Teilerfolg nachdenke, dämmert mir plötzlich: Hier in unserem Stockwerk leben doch gar keine Kinder. Ich habe nicht einmal in fünf Jahren auf unserer Etage ein Kind gesehen. Also geht es wohl um das hypothetische Kind. Ums Prinzip. Okay, meinetwegen.

Am nächsten Tag hängt ein weiterer Zettel da. Wieder eine neue Person, die sich bislang noch nicht geäußert hat. Aus virologischer Sicht mögen ja offene Fenster sinnvoll sein – aber was machen wir dann bitte mit der Lärmbelästigung? Lärmschutz ist auch wichtig. Und dieses Haus ist zu laut. Ich kann nicht schlafen!

Ich habe Mitleid mit allen Kommunalpolitikern. Denn ungefähr so stelle ich es mir vor. Nein, man kann nicht einfach sagen, wir lüften jetzt mal durch, okay? Es gibt zu viele verschiedene Interessen. Man selbst glaubt ja immer, das Selbstverständlichste auf der Welt zu wollen. Aber der Andere halt auch. An der Wand im Flur hängt jetzt Zettel an Zettel. Wie kleine, passiv-aggressive Wahlplakate. Wütend stapfe ich in meine Wohnung, setze mich an den Schreibtisch, nehme Block und Stift und will grade anfangen, einen neuen Zettel zu schreiben auf dem steht: Liebe Nachbarn, das mit der Lärmbelästigung ist ein anderes Thema, hier geht es um ein Virus, das sich in der Luft…… Seufz. Ich breche ab.

Was macht Corona aus uns?

Ich zerknülle meinen Entwurf über die Eigenschaften von Aerosolen und werfe ihn weg. Denn einerseits will ich meinen Teilerfolg nicht riskieren und ein neues Fass aufmachen. Und andererseits wird mir gerade klar, dass ich nur einen Zettel davon entfernt bin, vollends die Rolle einer frustrierten Hygiene-Wahlkämpferin zu übernehmen. Ich meine, was kommt denn da als nächstes? Dass ich mit einem Transparent im Treppenhaus stehe? Was hat Corona nur aus mir gemacht.


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