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Das Corona-Tagebuch Wie unterschiedlich wir im Freundeskreis mit Corona umgehen

Was macht man bei Posts von Freunden, die ein anderes Verständnis von einem verantwortungsbewussten Verhalten zeigen als man es selbst hat? Es gibt zwei Möglichkeiten: rausschmeißen oder Fragen stellen. Kai Schächtele hat sich für die zweite Option entschieden.

Von: Kai Schächtele

Stand: 13.05.2020 | Archiv

Kai Schächtele | Bild: Kai Schächtele

Vor drei Wochen hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich einen Teil meiner Freunde verlieren könnte. Da gab es zum Beispiel den Anruf bei einer guten Freundin. Sie erzählte mir, dass ein paar Leute spontan zum Abendessen vorbei gekommen seien. Und ich dachte: Wie, spontan zum Abendessen? Wir haben doch Corona.

Ein paar Tage später hatten Menschen, die ich sehr mag, in Berlin eine Demonstration zum 1. Mai angemeldet: Sie machten daraus eine Performance mit Liebesliedern, pinkfarbenen Klamotten und Meterstab, um die 1 Meter 50 Sicherheitsabstand einzuhalten. Als ich die Videos in unserer internen Chat-Gruppe sah, war mein erster Gedanke: Wie jetzt? Unsere Gesellschaft kämpft mit dem richtigen Maß aus kollektivem Verantwortungsbewusstsein und individueller Freiheit, und ihr pocht auf euer Demonstrationsrecht, indem ihr "Caravan of Love" spielt und pinke Sonnenbrillen tragt – geht‘s noch?

Warum sich das falsch anfühlt

Für mich fühlt sich das im Moment falsch an. Es verträgt sich nicht mit meinem Verständnis von Verantwortung in Zeiten der Pandemie. Dass meine Freunde offenbar ein anderes Verständnis davon haben, ließ mich fürchten, dass ein Keil zwischen mich und sie fahren könnte, der für lange Zeit festsitzt. Es war ein scheußliches Gefühl.

Ich bin damit offenbar nicht allein. Bei Facebook und Twitter tauchen immer öfter Posts auf von Menschen, denen es ähnlich geht. Sie fragen: Wie soll ich mit Leuten umgehen, die sich zu Partys treffen und ihre Freiheit austanzen, ohne zu merken, dass mit großer Wahrscheinlichkeit nicht sie die Kosten dafür zu tragen haben werden, sondern Risikopatienten, die sie nie zu Gesicht bekommen werden?

Wie gehen meine Freunde damit um?

Ein Arzt aus unserem Freundeskreis sagte neulich zu mir: "Es wird interessant, wenn einer jemanden infiziert, der dann auf der Intensivstation beatmet werden muss." Aber auch dieser Freund war bei der Kunstaktion im Park dabei, wenn auch mit einigem Abstand. Vielleicht lag ja ich mit meiner Einschätzung daneben.

Wir stecken gerade alle zusammen in einer Wolke aus Orientierungslosigkeit. Man kann sich nicht zu hundert Prozent richtig verhalten. Nur mehr oder weniger falsch. Ich habe mich in meinem Denken, Fühlen und Handeln noch sie so herausgefordert gefühlt wie jetzt. Da schreit eine Stimme in mir: Leute, wir sind doch nicht mehr an dem Punkt, an dem wir die Verantwortung nur für uns selbst vermessen können. Wir haben doch Klimakrise. Wir haben Demokratiekrise. Wir haben Alleskrise. Seit Jahren leide ich, wenn Freude zum Ausspannen für eine Woche nach Mallorca fliegen. Aber dann sagte eine Stimme leise: Dass du mit deiner Blaskapelle für ein paar Tage zu einem Kulturausflug nach Zypern jettest, ist dann okay, oder wie?

Fight for the right to party?

Wir stehen an einer Zeitenwende, die uns mit neuen Fragen konfrontiert: Was bedeutet Verantwortungsbewusstsein, wenn der Krisenmodus zur neuen Realität wird? Welche Konsequenzen resultieren daraus fürs eigene Leben? Und sind wir in der Lage, sie auch dann mitzutragen, wenn sie nicht nur für andere, sondern auch für uns selbst schmerzhaft werden, weil sie unserem "fight for the right to party" im Weg stehen?

Corona ist für mich der Testfall, der zeigen wird, ob wir für die immensen Herausforderungen gewappnet sind, die vor uns liegen. Ich bin überzeugt: Die Antworten, die wir uns jetzt geben, werden uns lang erhalten bleiben, im Guten wie im Schlechten.

Wir werden geprüft

Als ich bei meiner Suche nach Antworten nicht mehr weiter kam, sah ich nur zwei Möglichkeiten: Rückzug oder Sprung nach vorn. Ich entschied mich für den Sprung. Und begann, meine Freunde anzusprechen. Das war so heil- wie mühsam. Denn auf einmal ging es nicht nur um deren Verhalten, sondern auch um meine eigenen vorschnellen Schlüsse.

Der eine erklärte mir, wie das mit dem Abendessen tatsächlich gelaufen war. Am Tisch saßen diejenigen, die für sich festgelegt hatten: „Wir sind wie eine Familie. Wir verbringen Zeit zusammen und umarmen uns. Aber niemanden sonst.“ Der Abend verantwortungsloser Mirdochegals verwandelte sich mit einem Mal in ein Treffen derjenigen, die für sich einen Kompromiss gefunden hatten aus den Wünschen des Ich und den Erfordernissen des Wir.

Und der Organisator der Liebes-Performance sagte mir, was er im Sinn gehabt hatte, als er die Demonstration angemeldet hatte: „Ich finde es wichtig, dass wir auch in solchen Zeiten unser Recht artikulieren, uns zu Wort zu melden. Aber eben unter Berücksichtigung der Abstandsregeln. In Tel Aviv haben auf diese Weise 5000 Leute demonstriert.“ Dann erzählte er, wie sich Parkbesucher darüber gefreut hätten, wie viel Glück und Freude die Performance ausgestrahlt hätte. Zum Schluss sagte er: "Sogar die Polizei hat sich dafür bedankt, wie verantwortungsbewusst wir vorgegangen sind."

Wir alle entwickeln uns in dieser Krise

Meine Sorge, ich könnte einen Teil meiner Freunde verlieren, hat sich gelegt. Ich habe seitdem einen anderen Gedanken im Kopf: Die Corona-Krise packt alles auf den Tisch, was wir in uns haben. Und es ist jetzt an uns, darüber auch dann das Gespräch zu suchen, wenn es anstrengend werden könnte. Vielmehr gerade dann. Das ist es doch, was Freunde von denen unterscheidet, die man trifft und schnell wieder vergisst. Es gibt im Moment keine einfachen Antworten. Aber näher kommen wir ihnen nur zusammen. Allein hat noch niemand den nächsten Schritt zur Weltrettung geschafft.

Kai Schächtele ist Buchautor, Moderator und Journalist, unter anderem bei der TAZ.


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