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Anne Müller liest Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt

Frauen nehmen sie bei Lesungen in den Arm und bedanken sich, dass einfach mal schwarz auf weiß steht, was sie die ganze Zeit leisten. Ein Gespräch mit Mareike Fallwickl über unbezahlte Care-Arbeit, Rollenzuschreibungen und auserzählte literarische Selbstmorde.

Stand: 05.12.2022

Mareike Fallwickl "Die Wut, die bleibt" (Rowohlt) | Bild: BR

Eine Frau springt vom Balkon. Die nächste Frau springt ein. Denn die Kinder müssen doch versorgt werden?

"… und außerdem: das Salz. Sie erhebt sich, und niemand achtet darauf, weil sie denken: Sie hat es vergessen, sie hat doch gekocht, weil sie denken: Sie ist die Mutter. Sie ist mit drei Schritten vom Abendbrottisch bei der Balkontür, öffnet sie, schaut nicht zurück, macht noch zwei weitere Schritte. Und dann diesen einen."

Mareike Fallwickl

Judith Heitkamp: Wie kommt man auf so einen Anfang?

Mareike Fallwickl: Tatsächlich aufgrund von nicht unbedingt realen Ereignissen, Gott sei Dank. Aber aufgrund dieser ganzen Situation, in der wir uns vor knapp einem Jahr noch befunden haben, 2021, tiefster Lockdown, und ich bekam fast jeden Tag Nachrichten von anderen Frauen, von Freundinnen, die Mütter waren - ‚Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich spring' einfach vom Balkon.‘ Und dieser hypothetische Satz, den wir oft äußern, um Verzweiflung auszudrücken, den wir so nicht wirklich ernst meinen, hat mich plötzlich komplett elektrisiert: Was ist, wenn das jemand wirklich macht? Was ist, wenn ich an diesem krassest möglichen Punkt erst anfange? Wo kann mich das hinführen und welche Geschichte entsteht genau?

Die Rückblende, die man erwarten könnte – welches Trauma Helene zu dieser Verzweiflungstat gebracht hat – für die interessieren Sie sich gar nicht so.

Nein - einmal, weil wir das Narrativ des Vaters, der sich entzieht, in der Literatur komplett auserzählt haben; ich bin mir sicher, jedem fallen aus dem Stegreif Bücher ein, in denen der Vater sich am Dachboden erhängt, in der Scheune erschießt, die zurückbleibenden Kinder und die Mutter noch mehr belastet. Aber das verzeihen wir, das kennen wir. Bei den Müttern braucht es immer irgendeine Art von Ausrede, ein emotionales Trauma, eine Geschichte in der Vergangenheit, irgendein wie auch immer gearteter Missbrauch, eine prekäre Situation … deswegen gibt es das alles im Buch nicht. Und ich wollte auch nicht durch die Augen dieser Mutter erzählen. Hätte ich das getan, hätten wir alle nur damit reagiert, dass sie sich für die Kinder ja selbst entschieden hat und sich dann auch um sie kümmern muss.

Helene springt also vom Balkon und wir gehen nach vorne. Der Schock und das Unverständnis und der Verlust müssen bewältigt werden. Aber natürlich auch der schlichte Alltag mit den drei Kindern und dem berufstätigen Vater. Es kommt Helenes Freundin Sarah, hilft aus und schlüpft immer mehr in die Rolle der Mutter. Für sie ist das neu, denn sie selber hat keine Familie. Und tatsächlich läuft der Alltag bald wieder. Das ist genau das Problem, das Sie ins Zentrum des Buches stellen. Warum?

Man versteht, glaube ich, im Laufe des Buchs schon, warum sie es getan hat ... wichtiger ist aber zu zeigen: Was passiert denn wirklich, wenn diese Mutter fehlt, nicht nur in allen emotionalen Belangen, sondern auch in ihrer Funktion? Wie eng haben wir eigentlich im Moment in unserer Gesellschaft Weiblichkeit und Kinderbetreuung und Care-Arbeit miteinander verknüpft? So dass eben der Vater im Moment des ersten Schocks, aber auch aus der Notwendigkeit der Kinderbetreuung heraus, sich an die nächste weibliche Person wendet. Er hat das Gefühl, dass er das Haus verlassen und erwerbstätig sein muss, weil er ja weiterhin dafür sorgen muss, dass das Konto gefüllt bleibt, dass diese Familie finanziell stabil bleibt - das ist das, was wir Männern zuschreiben. Bei ihr genügt es für ihn und auch für uns als Lesende, dass diese Person weiblich ist. Es ist egal, dass es sich noch nie um Kinder gekümmert hat. Während wir es sehr seltsam finden würden, würde er einen Bruder, einen Onkel, einen männlichen Freund wollen, der auf die Kinder aufpasst ...

Das ist aber eine ganz schön heftige Diagnose. Sind Männer heute wirklich immer noch so wenig partnerschaftlich wie dieser Johannes in Ihrem Buch?

Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist: Er kann gar nicht aus dieser Rolle raus. Diese Zuschreibung ist so rigide. Erstens lernen Männer von Anfang an, dass sie dafür nicht zuständig sind. Zweitens lernen sie auch, dass sie es gar nicht so gut können. Alle Männer, die Care-Arbeit gerne machen möchten, müssen immer mit massiver Gegenwehr rechnen. Und drittens stimmt es ja auch: Er kann nicht gleichzeitig zu Hause anwesend und erwerbstätig sein, weil wir Care-Arbeit nicht bezahlen.

Sarah springt in dieses Dilemma hinein. Dass sie keine Kinder hat, ist auch ein dramaturgischer Trick und erlaubt Ihnen, den Kümmer-Alltag in konkretester Weise auszumalen, obwohl der als literarisches Thema nach wie vor nicht so richtig als sexy gilt. Haben Sie das zu spüren bekommen?

Was Marcel Reich-Ranicki gesagt hat: Menstruationsprosa?

Sind Ihnen solche Abwertungen entgegengekommen?

Nein, ganz im Gegenteil. Gott sei Dank. Die Leute sagen: Danke, dass du es endlich aufgeschrieben hast. Danke, dass das endlich Platz haben darf in diesem Buch, in der Literatur generell. Frauen nehmen mich bei Lesungen richtig in den Arm und bedanken sich, dass das einfach mal irgendwo schwarz auf weiß steht, was wir die ganze Zeit leisten. Es gibt ein gesamtgesellschaftliches Gaslighting, den Frauen wird abgesprochen, dass wir uns so fühlen dürfen, dass wir überlastet sind, dass wir erschöpft sind. Das ist für die Hälfte der Bevölkerung ein sehr, sehr wichtiges Thema, weil es unseren Alltag beherrscht.

Was ist Sarahs Erfahrung mit dieser so konkreten, eigentlich sehr sichtbaren und doch nie wahrgenommenen Kümmer- und Mutter-Arbeit? Findet sie da ihre Erfüllung?

Das hat natürlich Spaß gemacht, Sarah hineinzuwerfen in diese Wohnung … wie doppelt und mehrfach krass es ist, wenn du alle diese Dinge tun, diese Bedürfnisse erfüllen musst, die nicht deine eigenen sind, wenn du diese Kinder nicht geboren hast. Alles ist fremd. Diese Berge an Wäsche, dieser Dreck überall ... Sarah hat eher weniger Spaß. Es ist aber auch ein bisschen perfide, weil sich Sarah sich in diesem Zeitfenster befindet, das wir Frauen aus biologischen Gründen einfach haben: Sie ist Ende 30, sie weiß nicht genau, ob sie noch Kinder kriegt oder überhaupt will. Und gleichzeitig ist ihr diese Verknüpfung von Sorgearbeit mit Weiblichkeit eingeprägt. Sie reflektiert das aber, merkt dann auch, wie wenig Aufwertung oder Dankbarkeit man dafür erfährt. Und wie sie selbst als kinderlose Frau früher auf Helene geschaut hat.

Wir kommen damit langsam zu dem Gefühl, das dem Buch den Titel gibt: "Die Wut, die bleibt". Hat die Wut, die bleibt, bei Ihnen beim Schreiben eine Rolle gespielt?

Jein … es wird jetzt oft gleich gleichgesetzt, als wäre es meine persönliche Wutrede. Das ist für mich nicht so, der Roman ist ein komplett fiktives Werk und vor allem auch ein Gedankenspiel. Dieser Sprung vom Balkon, der am Anfang steht, später auch alles, die Gewalt, das, was Lola macht.

Lola ist eine Figur, die ganz viel mit Wut zu tun hat. Sarah, die aushelfende Freundin -  die ist empathisch, mitleidig und zupackend. Und möglicherweise ist sie auch einfach ein bisschen blöd. So würde das nämlich Lola sehen, denke ich …

(lacht)

… Lola ist die Tochter im Teenager-Alter. Und sie betrachtet das, was ihre neue Ersatzmutter so treibt, mit großer Skepsis und einiger Kritik. Stehen die beiden für verschiedene feministische Ansätze, Lola und Sarah?

Sie stehen auf jeden Fall überspitzt für verschiedene Generationen des Feminismus. Sarah hat das Gefühl, dass sie ganz gut zurechtkommt in dieser patriarchalen Welt. Sie ist einigermaßen erfolgreich, empfindet sich als unabhängig. Und dann kommt Lola und legt den Finger in Wunden, von denen Sarah nicht mal wusste, dass die überhaupt existieren. Lola ist inspiriert von echten, sehr jungen Frauen.

Lola und ihre Freundin sind der zweite Erzählstrang. Sie verweigern sich den traditionellen Rollenerwartungen total, trainieren Kampfsport und greifen zu Gewalt, um sich zu wehren, wenn Frauen angegriffen werden. 

In all diesen Diskussionen, die wir jemals führen können über Männer und Frauen, über die Unterschiede und warum Frauen eigentlich unterdrückt sind, wird uns immer ein Totschlagargument entgegengeschleudert, das alles beenden soll: Am Ende des Tages sind Männer einfach körperlich überlegen. Ich wollte diesen Satz aufgreifen und ihn umdrehen: Was ist, wenn der nicht mehr stimmt? Was passiert dann? Wenn es vier Jungs wären, die im Park irgendjemanden in die Fresse hauen, fänden wir es ganz normal. Plötzlich sind hier die Männer diejenigen, die nachts durch die dunkle Gasse gehen und sich in einer bedrohlichen Situation befinden. Das sind wir nicht gewohnt. Und so spielt das Buch natürlich mit all diesen Rollenzuschreibungen und Erwartungshaltungen, in dem es sie komplett umdreht. 

"Die Wut, die bleibt" von Mareike Fallwickl ist bei Rowohlt erschienen.


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