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Literatur und Demokratie "Ich vertraue auf die subversive Kraft von Literatur"

Wahrhaftigkeit, Transparenz und Partizipation sind Grundpfeiler einer Demokratie. Und die Teilnahme an diesem Prozess ermöglicht uns unsere Sprache, die zugleich auch ein Brennglas für den Zustand einer demokratischen Gesellschaft ist. Der preisgekrönte Schriftsteller Feridun Zaimoglu, Antje Rávik Strubel, die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2021 und der Dichter und Heinrich-Böll-Preisträger José F.A. Oliver denken nach über Demokratie und welche Rolle die Literatur darin spielt.

Von: Cornelia Zetzsche

Stand: 19.11.2021

Schriftsteller José F.A. Oliver, Antja Rávik Strubel, Feridun Zaimoglu | Bild: picture alliance, wikimedia Magdalena Kauz / BR-Montage

Deutschsprachige Literatur scheint politischer geworden zu sein, José F.A. Oliver, Antje Rávik Strubel, Feridun Zaimoglu waren es schon immer. Feridun Zaimoglu wuchs als Kind türkischer Gastarbeiter in München Moosach auf und ist heute einer der erfindungsreichsten, sprachmächtigsten Autoren des Landes. Antje Rávik Strubel aus Potsdam gewann im Oktober den Deutschen Buchpreis. José F.A. Oliver dichtet polyphon, in Deutsch, Spanisch und vielen Idiomen. Er bekommt am 26. November den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln. Cornelia Zetzsche hat mit den drei preisgekrönte Autoren gesprochen und ihnen jeweils drei Fragen zur Demokratie gestellt.

Was macht für Sie das Wesen von Demokratie aus?

Schriftsteller Feridun Zaimoglu

Feridun Zaimoglu: Ich lebe in einem demokratischen Land, in dem ich frei sein kann, das ist keine Selbstverständlichkeit. Denke ich an Deutschland wird mir wohl zumute, ich bin frei von Ängsten. An Deutschland denke ich als meine Heimat. Ich denke mit Liebe daran, und an Deutschland denke ich als nicht hohler, aber als verständiger Patriot. Ein schönes Land, in dem ein gutes Leben möglich ist, das man aber bitteschön erkämpfen muss. Ich habe immer wieder demonstriert gegen den Aufmarsch von Nazis, weil Faschismus für mich nicht eine einfache Meinungsäußerung ist, sondern tatsächlich auch ein Verbrechen. Ich bin also auch auf die Straße gegangen und habe üble Szenen miterlebt, wie die Ordnungsmacht gegen demonstrierende Bürgerinnen und Bürger vorgegangen ist. Ich habe den einen oder anderen Knüppeleinsatz miterlebt und fand es nicht in Ordnung, wie da mit Gewalt gegen Demonstrantinnen und Demonstranten vorgegangen wurde. Da gibt es Missstände, darauf weise ich immer wieder hin. Aber das bedeutet nicht, dass ich wie diese rechten Spinner oder Verschwörungstheoretiker ticke und sage, es ist etwas faul im Staate Deutschland.

José F.A. Oliver: Denke ich an Deutschland, bin ich froh, dass ich hier leben darf. Wenn man jetzt nach Polen, nach Ungarn, an die belarussische Grenze schaut, wo eine Entmündigung stattfindet, wenn ich in die Türkei schaue, wo ich sechs Monate gelebt habe, dann bin ich froh, dass ich in Deutschland lebe und keine Furcht davor haben muss, dass ich nicht mehr alles sagen kann, was ich denke. Aber ich habe immer noch keinen deutschen Pass, weil ich in meinem Sinne keinen Rechtsanspruch auf diesen Pass habe. Das ist etwas, was mir gewährt wird, worauf ich Anspruch hätte, aber nicht, weil ich in diesem Land geboren bin. Das heißt, ich müsste den Pass beantragen, und dann wird es von irgendeinem Amt entschieden, und dann gäbe es ein Einbürgerungsgespräch. Da ich in Deutschland geboren worden bin, da ich in dieser Sprache lebe und durchaus ein anerkannter Literat in dieser Sprache bin und nirgends woanders gelebt habe, werde ich kein Einbürgerungsgespräch führen - nach 60 Jahren Deutschland.

Antje Rávik Strubel: Zum Wesen der Demokratie gehört für mich, dass alle, die daran beteiligt sind, die gleiche Berechtigung haben, mitzusprechen und mitzuwirken am öffentlichen Diskurs, also eigentlich an der Fabrikation dieser Gesellschaftsform oder überhaupt an der Fabrikation des Alltags, der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Alle können sich äußern. Ich glaube, wir sind da noch nicht ganz angelandet, solange queere Menschen oder Menschen nicht-weißer Hautfarbe, zuweilen auch Frauen noch immer noch als das Andere markiert. Von Menschen- und Frauenrechten war erst neulich wieder die Rede. Das zeigt ja schon, dass es da offensichtlich noch immer einen Unterschied gibt. Also die Menschen sind immer noch irgendwie andere als die Frauen.

Inwiefern ist die Sprache ein Seismograph für die demokratische Verfasstheit des Landes?

Schriftstellerin Antje Rávik Strubel

Antje Ravic Strubel: In der Sprache sieht man das am deutlichsten. Wir sind ja immer noch beim generischen Maskulinum, darum tobt im Moment ein großer Krieg. Die männliche Berufsbezeichnung, überhaupt die männliche Bezeichnung ist offensichtlich immer noch die, die für gängig gehalten wird, auch wenn sie eigentlich längst nicht mehr die Wirklichkeit abbildet, weil Frauen ja seit etwa 100 Jahren auch schon Berufe ergreifen dürfen, wenn man Virginia Woolf glauben kann. Und die Behauptung, dass das angeblich natürlicherweise so wäre, wird mit unglaublich vielen linguistischen Verrenkungen begründet, dass diese männliche Bezeichnung immer schon so war und deswegen auch so bleiben müsste.

Feridun Zaimoglu: Ich bin nicht der Meinung, dass sich die Welt ändert, bloß weil man glaubt, besonders progressiv sprechen zu können; dass man allein schon deswegen progressiv ist, bloß weil man mit der Sprache und mit dem Glauben auf Identitätspolitik setzt. Für mich ist Identitätspolitik das Allerletzte. Denn, und von dieser Überzeugung habe ich mich nicht befreit, ich bin ein Teil der sozialen Kämpfe in der Bundesrepublik Deutschland, und das bedeutet: Man hat mir in den letzten Jahrzehnten weismachen wollen, dass es hier kein Reich und kein Arm gibt, dass hier ein Paradies entsteht. Nein, was ich sehe ist, dass in Deutschland von unten nach oben das Geld geschaufelt wird, dass noch immer Unrecht herrscht. Und da ist mir meine Identität, mit Verlaub, schnurzegal. Wer auf Deviation setzt, bloß weil er eine bestimmte Herkunft hat oder eine sexuelle Präferenz, wer die Welt sexualisiert, und wer auf Sichtbarmachung und Aufwertung setzt, nur über die Identität, der wird auf die Schnauze fallen.

José F.A. Oliver: Sprache zeigt, dass es nicht nur Schwarz-Weiß-Denken gibt, sondern Zwischentöne. Als Spracharbeiter versuche ich zu vermitteln, auch bei Schülern und Schülerinnen. Ich liebe beispielsweise Rechtschreibfehler, da hatte ein Schüler Glückseligkeit mit SEH geschrieben. Und dann hat er gesagt, das ist das Glück, das ich sehe. Da hab ich gedacht, vielleicht ist das wirklich die Entwicklung dieses Wortes. Ich denke heute an die Werbung, an dieses bildliche Denken des Glücks, das da vermittelt wird, dass die Entwicklung dieses Wortes mit Sehen und nicht mehr mit der Seele zusammenhängt. Und allein das zu besprechen, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass das Wort woanders herkommt, dass es mit der Seele, mit einem inneren Zustand zu tun hat, dieses mit Sprache Umgehen, ich glaube, damit schaffe ich eine Mündigkeit, das schärft den Blick auf Sprache.

Inwieweit kann Literatur zum demokratischen Prozess beitragen?

José F.A. Oliver: Literatur kann Fantasieräume öffnen, Literatur kann den Blick auf Sprache schärfen, kann andere Lebenswelten in den Raum stellen, indem ich mich in sie hinein begebe, weil ich sie lese. Man liest sich ja immer selber auch mit. Insofern ist Literatur im Sinne von "poetisiert euch!", den poetischen Blick aufs Leben zu werfen, eine unglaubliche Möglichkeit, den Floskeln und der Abgedroschenheit von Sprache etwas entgegenzusetzen.

Antje Rávik Strubel: Ich vertraue auf die subversive Kraft von Literatur. Ich kann über Literatur Menschen berühren. George Eliot hat es so schön formuliert: "Der Nutzen von Kunst ist die Erweiterung unserer Sympathien". Also, ich kann über Literatur, über Berührung, Menschen erreichen und eventuell über diese Berührung auch was im Denken und der Wahrnehmung verändern oder zumindest eine Irritation erzeugen, die vielleicht zum Nachdenken führt. Das wäre eine sehr optimistische Sicht. Natürlich kann Literatur nicht direkt in den Diskurs in dem Sinne eingreifen, so dass sie sofort eine Veränderung bewirkt, aber sie hat doch, glaube ich, einen langen Atem, und manchmal passiert über diese Berührung, durch Sprache und Identifikation mit bestimmten Figuren, vielleicht doch was.

Feridun Zaimoglu: Ich könnte nicht eine Zeile schreiben, wenn ich nicht mit meiner Identität brechen würde. Ich war auf dem Papier ein Gangster, ein Börsenspekulant. ein kleines Mädchen, das zur jungen Frau heranreift. Ich war ein deutscher Junge von acht Jahren im Istanbul der 1930er. Ich war Antigone. Ich war die Lisette im Revolutionsjahr in den Wirren beim Elberfelder Aufstand. Ich war, ich war. Ich war. Ich war viele. Und ich bin, ich bin, ich bin, von diesem "ich bin" muss ich weg. Das ist unerträglich. Früher oder später werden diese Heroen und Heroinnen, die auf Sprachreglementierung und auf Identitäten setzen, feststellen, dass das eine Sackgasse ist. Es gilt, ich komme aus der archaischen Welt, und habe sie nie verlassen, es gilt nur eins, nicht Identität, sondern: Bekleidet die Nackten und nähret die Armen! Der Rest ist unwichtig. Und die Identität? Papperlapapp. Ihr Lieben, die ihr draußen auf Identitätspolitik setzt, tut bitte nicht so, als hätte man erfolgreich den Feminismus ausgefochten. Tut nicht so, als gehörte zur deutschen Normalität dazu, dass die Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Da muss man doch Tomaten auf den Augen haben.

Literatur und Demokratie. Texte und Gedanken von drei preisgekrönten Autoren und Autorinnen des Landes. In "radioTexte - Das offene Buch", 21. November 2021, 12 Uhr 30. Und zeitgleich als Podcast.

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