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"Tausend deutsche Diskotheken" - Debüt-Roman von Michel Decar

Mitten im damaligen Münchner Nachtleben, in den „angesagten Tanz- und Szeneschuppen“ wie dem "Sugar Shack" spielt 1988 der gerade erschienene Debüt-Roman des Dramatikers, Hörspielautors und Kleist-Förderpreisträgers Michel Decar. Von Knut Cordsen

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Im Jahr 1988, mitten im damaligen Münchner Nachtleben, in den damals angesagten Tanz-und Szene-Schuppen wie dem "Sugar Shack", spielt der gerade erschienene Debütroman "Tausend deutsche Diskotheken" des Dramatikers und Hörspiel-Autors Michel Decar. Knut Cordsen hat mit ihm über Exzesse, das zu enge Augsburg und die untergegangene Welt der alten BRD gesprochen.


Knut Cordsen: Die Zeit von VHS-Kassetten von Hawaii-Hemd, Aerobic, WOM (World of Music) und Münz-Telefonen, auch von den vielen seinerzeit noch existierenden Diskotheken, die Sie in Ihrem Buch heraufbeschwören – die können Sie nur vom Hörensagen kennen, denn sie sind 1987 zur Welt gekommen. Aber Ihr Roman ist so eighties, als wären sie selbst dabei gewesen. Wie kommt das?

Michel Decar: Ich habe mich wahnsinnig angestrengt. Das freut mich, wenn das geklappt hat. Ich habe natürlich "Mjunik Disco" gelesen, aber auch die eine oder andere Quelle habe ich mir besorgt. In den Staatsbibliotheken zu München und Berlin zum Beispiel, um das hinzukriegen.

Es gibt ja diesen zu Tode zitierten Satz von Falco: Wer sich an die Achtziger erinnern kann, hat sie nicht erlebt. Hat sie der Exzess, der aus so einem Satz spricht, fasziniert oder was hat Sie als Nachgeborenen so für die 80-er Jahre als Sujet eingenommen?

Der Satz vielleicht nicht direkt, aber natürlich umschwebt das Jahrzehnt eine gewisse Magie, eine Faszination. Für mich war es auch eine Art detektivische Suche, auf die ich mich begeben habe beim Schreiben. Parallel zur Hauptfigur, die auch auf einer Suche ist, bin ich selber auf eine Suche gegangen um diese Republik, die BRD, in der ich geboren wurde, aber die ich so nicht miterlebt habe, kennenzulernen oder mich da rein zu träumen und mich auch in diesen Exzess rein zu begeben.


"White Heat" von Madonna als eine Art Leitmotiv


Ich bin ein bisschen älter als Sie, aber mir war nicht mehr präsent, dass 1988 ein Versuchsmodell des ICE, der Intercity Experimental, einen Weltrekord aufstellte, auf einer Teststrecke zwischen Würzburg und Fulda. Eine Höchstgeschwindigkeit von 406 Stundenkilometern. Das war auch die Zeit, als Speisewagen noch Speisewagen hießen und nicht Bordrestaurants. Die Deutsche Bundesbahn hieß auch noch Deutsche Bundesbahn und nicht Deutsche Bahn. Die spielt ja mittelbar auch eine Rolle in Ihrem Roman, genauer gesagt ein fiktiver Bundesbahn-Vorstand, der erpresst wird. Vielleicht können Sie mal kurz skizzieren, warum der Privatermittler, dieser Detektiv, den sie schon angesprochen haben und den dieser Bundesbahn-Vorstand beauftragt, sich auf der Suche nach seinem vermeintlichen Erpresser, durch Diskotheken fragen muss?

Das kommt daher, dass dieser gerade angesprochene Bundesbahn-Vorstand einen Erpresser-Anruf bekommt, der, wie es scheint, aus einer Tanzbar oder Diskothek abgesendet wurde. Und der einzige Hinweis, den es nun gibt, um diesen Erpresser ausfindig zu machen, ist, das im Hintergrund dieses Anrufs ein Song lief und dieser Song wird identifiziert als Madonnas "White Heat", ein wahnsinnig unbekannter Song von Madonna, muss man dazu sagen. Dieser Privatermittler Frankie begibt sich nun auf eine Reise durch das Münchner Nachtleben und forscht nach, wo denn dieser Song gelaufen sein könnte. Das sind die Koordinaten, die hat er hat. Er hat eine Uhrzeit und er hat diesen Song und begibt sich auf die Reise.

Er weiß, es ist am 9. Juli um 23.40 Uhr gewesen. Und es war "White Heat" zu hören. Warum Ausgerechnet dieser, wie es im Buch heißt "schiefe Song" von Madonna, den heutzutage kein Schwein mehr kennt?

Vielleicht gerade deswegen, weil er mir wirklich sehr schief vorkam. Irgendwas hat mich daran gestört oder irgendwas hat mich daran gepackt oder auch geärgert. Außerdem hängt ihm auch eine kleine Meta-Geschichte an. Im Musikvideo wird nämlich ein Film zitiert, der den deutschen Verleih-Titel "Maschinengewehre" hat – eine Anspielung auf die klassische Ära des Noir, der Detektivgeschichten der 30er, 40er und 50er Jahre in L.A.


Augsburg-Bashing


Ihr Privatermittler tingelt auf der Suche nach dem Erpresser tatsächlich durch "Tausend deutsche Diskotheken", nicht nur in München, sondern in ganz Bayern: Freising, Ingolstadt, Rosenheim, Garmisch und dann durchforstet er schlussendlich ganz Westdeutschland: Frankfurt, Köln, Hamburg, Bonn. Auch in Augsburg ist er unterwegs, in ihrer Geburtsstadt. Ausgerechnet in Augsburg, der "uninteressantesten Stadt, die man sich vorstellen kann". Das beruht auf eigenen Erfahrungen, nehme ich an?

Nein ich habe ein natürlich ambivalentes Verhältnis zu Augsburg, weil ich da aufgewachsen bin und ich das natürlich als Jugendlicher auf eine Art als eng empfunden habe, als kleinstädtisch, vielleicht sogar als provinziell. Ich wollte raus. In die großen Städte, in die große Welt. Selber neue Sachen erfahren. Alles austrinken. Alles anfassen. Wie man es eben so macht mit Anfang 20. Jetzt bin ich Anfang 30 und habe inzwischen ein entspannteres Verhältnis zu Augsburg.

Aus heutiger Sicht gesprochen, ist das eine untergegangene Welt, die Sie in Ihrem Roman, auf sehr komische Art und Weise, nochmal evozieren. Wir befinden uns ein Jahr vor 1989 in Westdeutschland, in der alten Bundesrepublik, die Sie gerne mal "BR Deutschland" nennen. Und über allem liegt so eine seltsame Endzeitstimmung. "Möglicherweise sind das die letzten Tage der BRD so wie wir sie kennen", heißt es mal, vom "totalen und unwiderruflichen Zusammenbruch der Bundesrepublik Deutschland" ist die Rede, als ob man damals schon geahnt oder gespürt hätte, das nicht nur das Ende der DDR bevorstünde, sondern auch das der Bundesrepublik in ihrer bisherigen Form. War das so?

Ja, das ist das Spiel das drinsteckt. Auch in diesen Formulierungen: Das nicht nur die DDR als Staat untergegangen ist, sondern auf eine gewisse Art auch die BRD untergegangen ist, oder einfach nicht mehr die war, die sie in den 80-ern noch war. Das ist mir ein wichtiger Punkt, den ich zeigen möchte.


Am 25.07. um 20 Uhr stellt Michel Decar seinen Roman im Marstall des Münchner Residenztheaters vor.


Michel Decar: "Tausend deutsche Diskotheken". Roman. Ullstein. 240 Seiten. 20 Euro