Felsschlucht mit Brücke
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Lieber Gründe als Abgründe: Ein Lob der Vernunft

Nervosität, Wut, Politikverdrossenheit - die Öffentlichkeit ist von viel Gefühl gesättigt, von negativem Gefühl zumeist. Das ist vermutlich nur mit einer alten Tugend zu bewältigen: vernünftigem Denken. Und mit begründeter Kapitalismuskritik.

In der öffentlichen Debatte, in Politik und Medien werden gegenwärtig viele Untergangsszenarien gezeichnet. Der Diskurs ist nervös, der Ton verschärft sich, konstruktive Rhetorik und kreatives Denken haben es schwer. Aber woher speisen sich eigentlich die Ängste der Gegenwart? Und welche positiven Erzählungen könnte es geben? Unsere Serie "Hurra, wir denken noch! Keine Angst vor der Angst" erkundet das Feld zwischen Schrecken und Utopie.

"Die Schwerkraft ist überbewertet", singt Peter Licht in einem Song. "Und der Kölner Dom, da kann ich mich auch drüber aufregen". Richtig ist: Die Stimmung ist gereizt. Überbewertet, finden viele, sind auch Menschenrechte, die EU, die Demokratie, die Gleichberechtigung oder Politiker, die Erderwärmung, der Journalismus…

Die Ungeduld der Twitter-Politik

Eine Stimmungslage, die gefärbt ist von Politikverdrossenheit und angetrieben wird von einer archaischen Sehnsucht nach Unmittelbarkeit. Lange, komplizierte Entscheidungsfindungen und Problemlösungsverfahren? Wozu, wenn es doch auch hemdsärmelig geht, flott über Twitter zum Beispiel. Oder schnell und unkompliziert mit grünen Männchen auf der Krim. Die digitale Welt mit ihrer sofortigen Wirksamkeit, mit ihrer Jetzt-Sofort-Rasanz erzeugt Ungeduld, ja gar Unverständnis für langwierige demokratische Prozesse.

Die Technik befördert die Illusion direkter Intervention. Flüchtlinge, die unseren Alltag womöglich komplizierter gestalten? Grenzen zu. Und die Grenze zwischen Reality-Show und Wirklichkeit ist längst verschwommen. All das führt, ganz wie im Action-Thriller, zu starken Emotionen. Die Welt ist plötzlich voller Gefühle, die Menschen sind außer sich. Tschechow konnte noch darüber staunen, wie nervös alle sind. Heute dominieren Wut, Hass und Zorn. Viele Zeitungen haben deshalb längst die Kommentarfunktionen unter ihren Online-Artikeln abgeschafft.

Das vernünftige Einwirken auf sich selbst - eine Tugend, die aus Allgemeinbildung, aus der Erfahrung und Wissen, aus Empathie, Vergleichen und Relativieren heraus möglich war - ist verschwunden. Und mit ihr der Witz und die Kraft zu widerstehen.

Der Draht der Vernunft zur Welt

Auch die Sprache dient nicht mehr dem Begreifen, sondern dem Klagelied, dem Abwehrzauber und der Beschwörung – vor uns der Absturz, hinter uns die Abgründe. Da, wo früher Zukunft war, nämlich ein offener Horizont von Möglichkeiten, ist heute dunkle Ahnung, Drohung und Angst. Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor Migranten, Angst vor Terror, Angst vor Afrika, vor allen möglichen apokalyptischen Reitern. Eine einzige chronische Verdüsterung von Grundstimmung.

Das, was wir de facto erleben, ist die Beschleunigung des Immergleichen. Eine durch und durch kapitalisierte, neoliberale Welt - und Politik als hinterherhechelndes Krisenmanagement. Anstatt weltweit ein nachhaltiges und gerechtes Wirtschaftswachstum zu befördern, zementieren die globalen Märkte Ungleichheit und Ausbeutung. Statt uns unsere Wochen- und Lebensarbeitszeit frei wählen zu lassen, zwingt uns der Neoliberalismus in ein Hamsterrad mit goldenen Speichen, in dem wir kaum noch Zeit haben, uns über unser Konsumverhalten oder unsere Zukunft überhaupt Gedanken zu machen. Alles unterliegt der Logik der Effizienz und des Kapitals. Sie gilt es zu durchbrechen. Mit rationalen Gründen, nicht mit Abgründen. Mit intellektuellem Aufwand und Vernunft, nicht mit einfachen, eiligen Botschaften. Bildung und Bücherbelesenheit schaffen einen Draht der Vernunft zur Welt. Es geht um eine Resonanzachse, die wieder viel stärker vibrieren muss.