Bildrechte: Jean-Marc Turmes/Metropoltheater München

Zauberhafter Empfang: Nathalie Schott

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Die Welt ist eine Scheibe: Märchenhafte "Alice" in München

Der Mathematiker Charles Dodgson, besser bekannt als Lewis Carroll, war besessen vom Mädchen Alice - und arbeitete sein gefährliches Begehren mit einem Märchen auf. Es wurde zum Welterfolg - auch als Tom-Waits-Musical. Nachtkritik von Peter Jungblut.

Was für ein Psychotrip: Nur im Märchenland fühlt sich Charles Dodgson alias Lewis Carroll noch sicher vor den eigenen Trieben. Der viktorianische Theologe und Mathematiker, aufgewachsen in einem Pfarrhaus, wird im Musical von Robert Wilson und Tom Waits aus dem Jahr 1992 als von unheimlichen Gelüsten gequälter Kerl dargestellt, der sich aus lauter Angst in die eigene Fantasie flüchtet. Tatsächlich hatte der Hobby-Fotograf Lewis Carroll (1832 - 1898) bei einem zufälligen Blick aus seinem Arbeitsfenster die damals vierjährige Alice Liddell, die Tochter eines Kollegen und Nachbarn, entdeckt und sofort als Modell für allerlei Probe-Aufnahmen angeheuert. Einige Jahre später, 1862, inspirierte ihn das Mädchen auf einer Themse-Fahrt zum berühmten surrealistischen Märchen "Alice im Wunderland" - mehr Therapie für Erwachsene als Fabel für Kinder.

Die Welt gerät ins Schlingern

Am Münchener Metropoltheater inszenierte Philipp Moschitz das Erfolgsstück als düstere Parabel über den Wahnsinn. Stockdunkel ist es zunächst auf der Bühne, dann wird eine riesige Scheibe mit einer Schiebetür sichtbar (Bühne: Thomas Flach). Sie dreht sich und damit auch alle Personen, die sie betreten, hindurch wollen, sich recken und strecken, feixen und drohen, präsidieren und spielen. Es ist natürlich die ganze Welt, die hier ins Schlingern gerät, auf den Kopf gestellt wird. Alice, eine Puppe, die von Vanessa Eckart mit Magneten an den Schuhen bewegt wird, weiß schon nach wenigen Minuten nicht mehr, wo sie ist, wer sie ist und wozu alles gut ist. Das Wunderland folgt keiner Logik und keinem Zweck. Mr. Dodgson trägt Trenchcoat, singt traurige Lieder und schiebt sich Kaninchen-Schneidezähne in den Mund. Fortan hoppelt er durch die Handlung und begleitet Alice von Station zu Station, von Blumen zu Katzen und Hunden, von Rittern zur Haselmaus. Ist er Verfolger oder Tröster, Bösewicht oder Beschützer?

Melancholisch, schräg und poetisch

Philipp Moschitz setzt auf Tanz und Bewegungstheater: Die sieben Mitwirkenden haben viel zu tun, müssen gurren und schnurren, poltern und flöten. Die Königin trägt ihre Krone in der Handtasche, das Reh übt Akrobatik, die Rose setzt auf ihren Duft. Für Kinder ist das alles wohl nicht gedacht und nicht gemacht, sondern für Tom-Waits-Fans, die es gern melancholisch mögen, schräg und poetisch. Der Kostümaufwand (Entwürfe: Cornelia Petz) ist groß, die Spielfreude der Darsteller ebenfalls. Thomas Schrimm ist ein grummeliger, aber nicht wirklich dämonischer Mr. Dodgson. Sebastian Griegel ein herrliches Trumm von einer Rose, Maria Hafner eine sehr überzeugende Königin, Nathalie Schott eine vampige Herzogin und elegante Haselmaus.

Seelische Entlastung vom Alltag

Dirigent Andreas Lenz von Ungern-Sternberg und seine Band steuern dazu sehr verschattete Klänge bei, aus der Tiefe des Raumes, wie herbei gewehte Lieder. Das passt gut zum kontrastarmen, erdigen Gesamteindruck dieser ganz und gar ungemütlichen Vorweihnachts-Produktion. Präsentiert wird hier, so, wie es Robert Wilson und Tom Waits vorschwebte, die Tragik des überforderten und gestressten Großstadtmenschen, der in bizarrren Bildwelten die seelische Entlastung sucht, die ihm der Alltag vorenthält. Das kann mal grausam sein, etwa, wenn die Königin Köpfe rollen sehen will, oder erotisch, wenn das Reh oberkörperfrei posiert. Zu Lewis Carrolls Zeiten war Begehren grundsätzlich eine Zumutung. Und heute? Ungefährlicher ist es nicht geworden. Eine bereichernde Erfahrung im kleinen Metropoltheater, das sich ausgerechnet im unwirtlichen Münchener Norden mit der Kraft der Poesie behauptet.

Wieder am 24., 25. und 26. November, sowie weitere Termine.