Angela Merkel verkündet am 29. 10. 2018 ihren Rückzug
Bildrechte: dpa/ Ulrich Baumgarten

Angela Merkel verkündet am 29. 10. 2018 ihren Rückzug

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Deshalb signalisiert Angela Merkels Rückzugsrede Stärke

Angela Merkel gesteht bei ihrer Eröffnung des Rückzugs offen Fehler ein und revidiert lang gehegte Überzeugungen. Rhetorisch aber erscheint dieser Moment der Schwäche als Stärke. Eine Analyse des Freiburger Sprachwissenschaftlers Uwe Pörksen.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

„Eine Rede ist niemals nur eine Präsentation, sie ist eine zukunftsoffene Tat“. Ein schlauer Satz aus der Feder vom Freiburger Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen, der über Jahrzehnte viele prägende politische Reden verfolgt und analysiert hat. Die viel diskutierte Rückzugsrede von Angela Merkel hat er ebenfalls genauer unter die Lupe genommen. Joana Ortmann hat mit ihm über Merkels Rede gesprochen.

Joana Ortmann: Erstmal grundsätzlich gefragt: Was verstehen Sie unter einer Rede als „zukunftsoffene Tat“?

Uwe Pörksen: Ich meine, dass die Rede im übertragenen Sinn etwas öffnet und einen neuen Blickpunkt auf eine Situation vermitteln kann, der dann weiter wirkt wie ein Impuls. Im günstigsten Fall wirkt eine Rede so.

War Angela Merkels Rückzugsrede so ein günstiger Fall für Sie?

Ja, denn diese Rede hat zunächst einmal völlig überrascht. Merkel hat einen Tag lang gewissermaßen die Öffentlichkeit in die Hand genommen und dadurch erreicht, dass diese öde und verächtliche Kritik an der Gesamtsituation im Bundestag einen Augenblick lang verschwindet, und dass man einen ganzen Tag lang nicht darüber nachdenkt und davon redet, dass man hier ein miserables Ergebnis hervorgebracht hat, sondern dass man überrascht ist. Sie hat in dieser Rede niemanden angegriffen - außer sich selbst. Sie hat von eigenen Fehlern gesprochen und hat zugesagt, dass sie die Partei jetzt sozusagen zu ihrem ernst zunehmenden Partner in der Politik machen wird, und das war nötig.

Eigene Fehler einzugestehen, Entscheidungen offen zu revidieren – das ist in der heutigen politischen Kultur eigentlich ein No-Go geworden. Sie hat das aber trotzdem gemacht. Was fanden Sie daran interessant?

Sie hat es anscheinend vorher schon längere Zeit überlegt und vorgehabt. Sie hat einen günstigen Moment gewählt, um diese Entscheidung mitzuteilen und hat dadurch auch die Depression, die herrschte, ein wenig gemildert.

Das macht kein Mann…

Ja, das ist vielleicht wahr. Aber das hat sie gemacht. Sie hat sich zurückgezogen, obwohl sie jahrelang die These vertreten hatte: Kanzlerschaft und der Vorsitz in der Partei gehören zusammen. Diese Annahme war ein Fehler. Sie hat zwar in der Partei ihre Stütze gehabt, aber im Bundestag eigentlich nicht im Kontakt mit den anderen, oder anders herum, in der Auseinandersetzung mit den eigenen Leuten regiert.

Wie ist dieser offene Moment der Schwäche rhetorisch zu deuten? Viele Kommentare gehen in die Richtung: ‚Das wird sie stürzen, dass sie das zugegeben hat.‘

Ich würde sagen, das hat sie gestärkt. Sie neigt ja nicht zu verächtlichem Verhalten oder gar zu heftiger Kritik. Nicht einmal gegenüber Trump. Ich habe kein einziges öffentliches bösartiges Wort von ihr im Ohr. Sie sagte zu ihm: ‚Wir haben ein ganz anderes Wertesystem.‘ Dass sie jetzt in diesem Fall auch Fehler eingeräumt hat, war richtig, weil es stimmt. Sie hat aber andererseits die Partei sozusagen auf eine Spur gebracht, auf der die Beteiligten sehen können, wie schwierig es ist, sich auf eine einheitliche Linie zu einigen. Da gibt es extreme Gegensätze. Ich bin nicht unbedingt ein Merkel-Anhänger, aber sie hat hier sehr klug gehandelt.

Sie haben in Ihren Büchern oft thematisiert, dass es Aufgabe der Rhetorik ist, das Bessere, das Vernünftigere herauszufinden – aber dafür sind die Zeiten gerade schlecht ...

Das ist wahr, gerade die beiden Volksparteien müssen wieder Tritt fassen. Dazu wollte Merkel mit ihrer Rede eine Tür öffnen. Die Partei muss nun klären, was sie wirklich will. Das gilt übrigens auch für die Sozialdemokraten.

Sie haben als Wissenschaftler immer gegen alle Widerstände die Kraft der Rede verteidigt. Wie aber kann vor dem Hintergrund einer zunehmend populistischen Rhetorik die politische Rede wieder stark werden?

Ich habe mich in letzter Zeit mit den Reden von Frank-Walter Steinmeier beschäftigt. Steinmeier hat eine vorzügliche Rede-Begabung. Ich habe alle 31 Reden, die er in seinem ersten Amtsjahr gehalten hat, gelesen, und finde, er hat ein großes Talent dafür, eine Verbindung mit seinem Gegenüber herzustellen, aber auch zu sagen, dass die Demokratie auf Widerspruch angewiesen ist, auf die Klärung durch Debatte. Also eigentlich ist die Rede ein mutiges politisches Instrument, wenn man sie ernst nimmt und die Positionen auch in ihrer jeweiligen Beschränktheit zugibt.

Wenn man jetzt mal zurückgeht auf den Kern von Rhetorik, dann steckt in jeder politischen Rede der tiefe Wunsch zu überzeugen …

Das gilt vor allem für die großen Entscheidungsreden, die Zukunftsfragen zum Thema haben. Diese Reden sind darauf angelegt, zum Ausdruck zu bringen: ‚Wir sind auf völlig falschem Wege, wir müssen neu starten.‘ Aber das wagt der Bundestag zurzeit gar nicht. Heute macht man es so, dass man bei den Zukunftsfragen immer weit in die Zukunft schaut und prognostiziert, was im Jahre 2030 oder 2040 alles passiert sein soll. Im Klartext heißt das: wenn man selbst nicht mehr an der Regierung ist.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung.

Die tägliche Dosis Kultur – die kulturWelt als Podcast. Hier abonnieren!