Bildrechte: Vincent Leifer/DNT Weimar

Annäherungsversuch: Candide und Kunigunde

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"Candide" in Weimar: Könige wollen auch nur die Beine rasieren

Mit seiner Operette "Candide" hatte Leonard Bernstein 1956 nicht besonders viel Glück: Zu betulich, urteilten die Kritiker. Doch am DNT Weimar gelang jetzt eine ätzend satirische Vierstunden-Version nach Voltaire. Nachtkritik von Peter Jungblut.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Kann das wahr sein? Kann ein Stück, das in einer Zwei-Stunden-Fassung langweilt, in einer doppelt so langen Version überzeugen? Leonard Bernsteins etwas betuliche Voltaire-Vertonung "Candide" war jedenfalls als Operette ein Flop und als Musical mittelmäßig erfolgreich. Dann knöpfte sich das Royal National Theatre in London 1999 die Satire vor, schüttelte sie gründlich durch, und der dreißigjährige Regisseur Martin Berger machte daraus für das Deutsche Nationaltheater in Weimar jetzt noch mal eine neue, scharf gewürzte, deutschsprachige Fassung. Und siehe da - sie dauert knapp vier Stunden und funktionierte gestern Abend bei der Premiere prächtig.


Befreit von esoterischem Kitsch


Ausgerechnet "Candide", dieses bisher doch recht behäbige, moralinsaure Musical über einen einfältigen, gutherzigen Kerl aus Westfalen, der in eine böse, böse Welt geworfen wird, ist jetzt plötzlich so ätzend und unterhaltsam wie die besten Stücke von Bertolt Brecht und Kurt Weill. Martin Berger befreite "Candide" vom biederen amerikanischen Etepetete-Charme der fünfziger Jahre und auch vom süßlichen, esoterischen Kitsch der siebziger - endlich klingt Voltaire wieder so, wie er war: Schneidend, hämisch, kaltschnäuzig und reichlich unsympathisch, aber herrlich treffend, grotesk, lebensprall.


Voltaire persönlich moderiert das Stück


Die beste aller Welten ist miserabel, so die Botschaft, und nicht mal die besten aller Menschen haben darin eine Chance, aber sie können ja versuchen, sie zu nutzen. So torkelt der blonde, naive Candide durch sein Leben, buchstäblich von der Befruchtung bis zur sehr späten Erkenntnis, dass es sich nicht lohnt, darauf zu warten, bis die Welt anständig wird. Wer will, sollte besser bei sich selbst anfangen - und auf Enttäuschungen gefasst sein. Voltaire persönlich führte in Weimar durch das Stück, eine Sprechrolle, die Dascha Trautwein mit viel kühler Herablassung gab: Der französische Philosoph glaubte an gar nichts und schätzte niemanden. Höchstens Friedrich den Großen, der ja schon 1740 der Meinung war, jeder solle nach seiner Facon glücklich werden: Ein Merkspruch, der am Ende auch als Schlussappell auf die Bühne projiziert wird. So alt, so gültig!


Lohnt sich lesen doch?


Martin Berger inszenierte vier Stunden episches Lehrtheater - was sich eigentlich dröge anhört, war eine Mischung aus "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" und "Dreigroschenoper", und um sich genügend lustig zu machen über diese Art Zeigefinger-Theater, ließ Berger ordentlich Papier rascheln. Es bedeckt anfangs den Boden und schwebt am Ende in den Himmel: Lohnt sich lesen also etwa doch? Wunderbar, diese Reise durch die Welt: Holland, Portugal, Spanien, Paraguay und Surinam, bis nach Venedig und von dort auf die Alm, wo es keine Sünde gibt, aber Geldprobleme! Sechs Könige werfen ihre Ornate ab und leben endlich so, wie sie schon immer leben wollten: Sie rasieren sich die Beine und tragen Frauenklamotten, werden in Gummistiefeln Handwerker und gehen zum Zirkus. Sei, wie du bist!


Fataler Hang zum "Hochschlafen"


Der Amerikaner Jeffrey Krueger überzeugte in der Titelrolle als herzerfrischender Tor, kommt er doch aus Iowa, sozusagen das Westfalen der USA. Maria Perlt als gerissene, sehr materialistische Geliebte Kunigunde war so köstlich dummdreist, dass ihr wirklich niemand den fatalen Hang zum Hochschlafen verübeln konnte. Ähnlich perfekt besetzt waren alle anderen Hauptrollen: Stefanie Dietrich als Alte Frau, die nur noch eine Pobacke durch die Gegend trägt, Caterina Maier als quirlige Lebedame, Uwe Schrader-Primus als wohlbeleibter Philosoph des Optimismus und sonstigen Schwachsinns. Dominik Beykirch, der 2. Kapellmeister in Weimar, schwang dazu seinen Taktstock so harsch, kraftvoll und ruppig, das "Candide" ein vierstündiges Satire-Vergnügen wurde. Okay, so schlecht ist die Welt vielleicht doch nicht, aber wer anfängt, an sie zu glauben, hat es sich mit Voltaire schon mal verscherzt.


Wieder am 9., 22. und 30. September.