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Liebe in Russland und Italien

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100 Minuten für 1000 Seiten Tolstoi: "Anna Karenina" als Ballett

Diese Frau nimmt sich die Freiheit - und bringt damit die russische Gesellschaft gegen sich auf. Was aktuell klingt, war schon bei Leo Tolstoi 1878 Thema seines Romans "Anna Karenina". Funktioniert das als Ballett? Nachtkritik von Peter Jungblut.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Wirklich kompliziert sind die Romane von Leo Tolstoi ja nicht, aber leider sehr unübersichtlich, durch ihre Länge und durch die schiere Anzahl der handelnden Personen. "Anna Karenina" zum Beispiel bringt es je nach Ausgabe locker auf 1000 Seiten, und obwohl es in der Hauptsache um eine Frau zwischen zwei Männern geht, bevölkert Tolstoi seine tragische Geschichte nicht nur mit den Karenins, sondern auch noch mit den Wronskis, den Oblonskis und den Lewins, um nur die wichtigsten Familien zu nennen. Wie soll das als Handlungsballett funktionieren, gestrafft auf gerade mal 100 Minuten?

Faible für russische Stoffe

Christian Spuck, Direktor des Züricher Balletts, versuchte es vor drei Jahren mit mäßigem Erfolg. Die Kritiken waren damals eher reserviert. Jetzt wagte Spuck an der Bayerischen Staatsoper in München einen neuen Anlauf, auf Einladung des russischen Ballettchefs Igor Zelensky, der ein Faible hat für klassischen Stoffe aus einem Heimatland - so sehr übrigens, dass er für seine eher rückwärts gewandten Programme heftig kritisiert wurde. Gleichwohl gibt es auch in München eine große russische Fangemeinde, nicht so zahlreich wie in Berlin, aber immerhin. Also wurde auch gestern Abend, nach der deutschen Erstaufführung der "Anna Karenina" freundlich applaudiert - aber die vielen Fragezeichen bei dieser Produktion, die blieben, es wurden vielleicht sogar noch mehr.

Es fehlte Tiefenschärfe

Ja, dieser vertanzte Tolstoi ist sehr unübersichtlich, da half auch nicht das informative Programmheft, und dadurch, dass derart viele Personen im Schnelldurchlauf abgehandelt werden mussten, hatte kaum ein Charakter Tiefenschärfe. Obendrein schien der Kanadier Matthew Golding in der männlichen Hauptrolle des Alexej Wronski am Premierentag nicht sonderlich in Form gewesen zu sein. Da fehlten Spannkraft, Ausstrahlung, Konzentration. Demgegenüber überzeugte die russische Solistin Ksenia Ryzhkova in der Titelrolle, auch wenn sie sich schwer tat, im recht hektischen Ablauf der Szenen ihre Seelennöte schauspielerisch zum Ausdruck zu bringen. Selbst der große, liebesselige Pas de Deux im sonnendurchfluteten Italien war optisch fast "überstürzt".

Birken: Trauriges, altes Russland

Choreograph Christian Spuck setzte durchaus auf Deutlichkeit, ja Überdeutlichkeit, als ob er selbst hier und da Probleme hatte, den Überblick zu bewahren. So stehen sechs Birkenstämme auf der ansonsten weitgehend leeren Bühne: Ausgerechnet Birken, die so ziemlich jede Tschechow-Inszenierung garnieren, nach dem Motto - das hier ist das traurige, alte Russland. Ganz hinten schimmern zwei Kronleuchter, nicht gerade verrätseltes Sinnbild der St. Petersburger Ballnächte. Musikalisch setzt Spuck auf die dunkle, hochromantische Leidenschaft von Sergej Rachmaninow und kontrastiert ihn mit den harten, rauen Klängen von Witold Lutosławski, der übrigens zu seine Lebzeiten nichts mit dem Ballett zu tun haben wollte. Rachmaninow steht somit für die Welt der Sinnlichkeit und der Triebe, Lutoslawski für Albträume, Wahnvorstellungen, den Druck der Gesellschaft.

Gut gemeint, wenig geweint

Auch diese Auswahl ist arg strapaziert worden: Müssen doch in allen Filmszenen, in denen es irgendwie unheimlich zugeht, die modernen Komponisten ran. So natürlich auch hier, und Christian Spuck setzt obendrein auf eingängige Geräusche wie das Donnern einer Dampflokomotive: Schließlich wirft sich Anna Karenina am Ende vor den Zug. Das alles wirkt handwerklich gekonnt, ist fast durchgehend sehr düster bebildert, wird dem großen, ja allzu großen Tolstoi-Stoff aber einfach nicht gerecht. Spuck blieb dramaturgisch zu oberflächlich, verzettelte sich in vielen guten Ideen. So ließ er in den Duettszenen die Solistinnen von ihren männlichen Partnern immer wieder sehr ruppig behandeln, über den Boden schleifen, Verrenkungen ausführen, um die Gewalt anzudeuten, die hier im Spiel ist. Russland ist ja nicht für Emanzipation bekannt. Der litauische Dirigent Robertas Servenikas fühlte sich mit Rachmaninow ebenso wohl wie mit Lutosławski - ihm gelangen auch faszinierende, abrupte Kontrastpunkte, an denen er übergangslos vom Romantiker zum Modernen wechselte. Insgesamt gut gemeint, wenig geweint, leider.


Wieder am 25. November, 1. Dezember 2017 und 23. März 2018.