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Zugunfall in Bayern

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Die Sicherheit der Fahrgäste steht auf dem Spiel

Private Eisenbahnunternehmen schlagen Alarm: Es häufen sich "Beinahe-Unfälle". Nach Recherchen von report München ist das menschliche Versagen von Fahrdienstleitern nicht das einzige Problem.

Über dieses Thema berichtet: report MÜNCHEN am .

Daniel Scheerer steht vor einem Berg von gelben Chrysanthemen, weißen Lilien und roten Rosen. Das Grab seiner Mutter ist noch ganz frisch und der Schock sitzt tief. Er kann immer noch nicht fassen, was auf den Schienen vor dem Bahnhof von Aichach passiert ist.

"Ich habe erst gedacht: Das war ein Unfall. Dann kommen die Artikel und Expertengespräche und dann kommt eben die Wut. Man denkt: Es war ja kein Unfall, es war grobe Fahrlässigkeit." Daniel Scheerer, Angehöriger

Rückblick: In Aichach prallt eine Regionalbahn am Montagabend des 7. Mai nahe des Bahnhofs frontal auf einen stehenden Güterzug. Der Zugführer und Daniel Scheerers Mutter sind sofort tot - 14 weitere Menschen werden teilweise schwer verletzt. Im Fokus der Ermittlungen: der Fahrdienstleiter. Die Staatsanwaltschaft hat gegen ihn Haftbefehl erlassen. 

Immer mehr „Beinahe-Unfälle“: Private Bahnunternehmen schreiben Brandbrief an die Deutsche Bahn

Immer wieder gibt es Vorfälle, bei denen es beinahe zu einem Unglück kommt. Im öffentlich einsehbaren Archiv der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) wird die Dimension deutlich: Zwischen 2012 und 2016 hat die BEU knapp 12.000 sogenannte „gefährliche Ereignisse“ registriert. Darunter fallen Zugkatastrophen, aber auch kleine Störungen.

Wie brisant einige dieser Vorfälle sind, beweist ein Schreiben des Interessenverbandes der privaten Bahnunternehmen an die DB Netz AG. Das Schreiben vom 2. Januar 2018 liegt dem ARD-Politmagazin report München und der Wirtschaftswoche exklusiv vor.

"In den vergangenen Jahren hatten wir einige Unfälle […] und bei unseren [Eisenbahnverkehrsunternehmen] EVUs eine Vielzahl von Beinahe-Unfällen. Nach unseren Erkenntnissen gaben die Fahrdienstleiter der DB Netz AG jeweils falsche Fahrbefehle." Schreiben des Interessenverbandes der privaten Bahnunternehmen an die DB Netz AG

Der Faktor Mensch als Sicherheitsrisiko: Mängel bei der Ausbildung der Fahrdienstleiter?

Liegt die Schuld also bei den Fahrdienstleitern? report München ist es gelungen, mit Fahrdienstleitern der Deutschen Bahn zu sprechen. Sie wollen anonym bleiben, weil sie Konsequenzen fürchten. Denn sie kritisieren die Ausbildung, insbesondere die von Quereinsteigern. Die Bahn bietet die Möglichkeit an, per Quereinstieg Fahrdienstleiter zu werden: Manche Stellenanzeigen beschreiben eine Ausbildung in 109 Tagen.

"Die kriegen zwar die Grundkenntnisse, aber nicht das fachliche Handwerk, was man dazu braucht. Sprich: Die ganze Erfahrung, das Mitlaufen auf den Stellwerken – das fehlt ja alles." Fahrdienstleiter

Die Bahn bezieht nach Anfrage von report München zu diesen Vorwürfen Stellung. Nach dem Unglück von Bad Aibling habe man ein Maßnahmenpaket entwickelt:

"Dazu gehören konkret: Simulatortraining für Fahrdienstleiter, Modifizierungen bei Aus- und Weiterbildung sowie weitere Intensivierung der Kontrollen." Stellungnahme der Deutschen Bahn

Technische Sicherheitsmängel bei der Deutschen Bahn?

Das Unglück von Aichach führt aber auch zu Kritik an der veralteten Bahntechnik: Das Stellwerk ist von 1949. Bahninsider beklagen jahrzehntelange Versäumnisse bei der Investition in neue Technik. Hans Leister war jahrelang Chef bei der Deutschen Bahn für Berlin Brandenburg. Heute berät er Bahnunternehmen in ganz Europa:

"Wir haben damals in den 60er, 70er Jahren schon die moderne Technik nicht flächendeckend eingeführt, sondern nur schwerpunktmäßig. Und genauso ist es weitergegangen. Wir haben noch viel zu viele Stellwerke und viel zu alte Stellwerke." Hans Leister, Bahnexperte

Deutschlandweite Digitalisierung der Deutschen Bahn kommt schleppend voran

Die Bahn rüstet mittlerweile auf das neue „European Train Control System“ um, aber noch lange nicht flächendeckend. Das soll für mehr Sicherheit auf der Schiene sorgen, weil das Stellwerk permanent mit den Fahrzeugen in Kontakt ist. Wann ETCS auch auf regionalen Strecken zum Einsatz kommt, kann uns die Bahn nicht sagen. Auch das Bundesverkehrsministerium will sich nicht festlegen: Man prüfe in Studien die Machbarkeit. Und:

"Grundsätzlich gilt: Die Sicherheit im Eisenbahnverkehr wird fortlaufend weiterentwickelt." Stellungnahme Bundesverkehrsministerium

Für Daniel Scheerer, der gerade seine Mutter beerdigt hat, ist das nur ein schwacher Trost.