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Rammstein-Reflexion "Ich kann auf Glück verzichten, weil es Unglück in sich trägt"

Die Anschuldigungen gegen Rammstein-Frontmann Till Lindemann sind schwerwiegend. Mehrere Frauen werfen ihm sexualisierte Gewalt vor. Unser Reporter war eigentlich immer Rammstein-Fan. Seit Beginn der Berichterstattung aber stellt er sich viele Fragen - und geht noch einmal zum Konzert.

Von: Ferdinand Meyen

Stand: 09.06.2023

Till Lindemann auf der Bühne beim Rammstein Konzert in Odense, Dänemark am 2. Juni 2023
| Bild: picture alliance / Gonzales Photo/Sebastian Dammark | Gonzales Photo/Sebastian Dammark

War ja klar. Natürlich gibt es einen Rammstein-Song, der meine aktuelle Gefühlslage auf den Punkt bringt. "Was ich Liebe" heißt er. Darin singt Till Lindemann: "Ich kann auf Glück verzichten, weil es Unglück in sich trägt." Rammstein haben ja immer darauf hingewiesen, dass man sie nicht zu sehr verehren sollte. Eine der größten Hits: "Ich will" basiert auf dem gegenseitigen Unverständnis zwischen Band und Gesellschaft.

Was will ich?

Und so stehe ich Donnerstagabend im Münchner Olympiastadion bei Rammstein und bin hin- und hergerissen. Beziehungsweise – bin ich überhaupt hin- und hergerissen? Sentimental? Ist die Liebe jetzt verdorben? Ich reiße mich zusammen. Eigene Fan-Befindlichkeiten bei einer Sache, in der es eigentlich um viel mehr geht, ist das nicht lächerlich? Es geht entweder um mutmaßliche Opfer von sexueller Gewalt – oder um einen Pop-Sänger, der wie seine Anwälte sagen, mit in vielen Fällen "ausnahmslos unwahren" und potenziell rufschädigenden Anschuldigungen konfrontiert ist. Es ist aber auch wichtig, über Fanbefindlichkeiten zu sprechen. Denn sie erklären vielleicht mit, warum die Debatte so emotionalisiert. Und warum es so wenig um Fakten und so viel um Vorverurteilungen geht, warum es so viel Victim Blaming gibt.

Rammstein wissen, wie man eine Show abfackelt. So auch wieder hier in München.

Aber von vorne: Für mich ist Rammstein meine erste Lieblingsband. Meine große Schwester erzählt mir von ihnen nach ihrem Schüleraustausch in den USA. Ihr damaliger Freund hatte ihr Rammstein gezeigt, war ganz ungläubig: "Aus Deutschland und Rammstein nicht kennen?" Und ich fand dann: Was für ein krasses Konzept. Brachial-Sound mit intelligenten und lyrisch anspruchsvollen Texten, Tabu-Brüche, Texte, die man bei jedem mal Hören anders interpretieren kann, obwohl sie gleichzeitig doch so eingängig sind. Und eine Kampfansage an Konventionen und an das Spießbürgertum. Ich habe keine andere Band so oft live gesehen, denn die Shows… so etwas gibt es sonst nirgendwo. Das ist nicht einfach ein Konzert, das ist Theater auf der Bühne, mit Flammen, Konfetti und Gitarren so laut, das einem nach dem Konzert noch zwei Tage die Ohren pfeifen. Seit letzter Woche ist das für mich leider nicht mehr so einfach.

Will ich das noch?

Auch andere Fans sind zerrissen. Rund um das Konzert in München, dem ersten nach Bekanntwerden der Vorwürfe, sind die Anschuldigungen Thema Nummer eins. Beim Small-Talk fallen solche Sätze: "Ich bin ehrlich, ich hatte auch kein reines Gewissen hierherzukommen. Aber mir waren die 120 Euro zu Schade, zu Hause zu bleiben." Oder: "Muss man schon kritisch betrachten. Es geht um den Kontrast zwischen der Unschuldsvermutung und der Tatsache, dass man die Menschen schützen muss, die eventuell Opfer einer Straftat geworden sind." Und: "Wenn das alles stimmt, ist das super scheiße. Ich bin selber Frau, da gebe ich dir Recht."

Vor dem Konzert, am Bierstand, sind die Anschuldigungen ein Small-Talk Thema.

Die meisten Fans halten an diesem Abend aber an ihrer geliebten Band fest. Am Ende, minutenlange Ovations. Dunkle Wolken hatten das Olympiastadion umringt, es gab eine Unwetter-Warnung. Es blitzt und donnert, aber bleibt trocken. Und am Ende sagt Till Lindemann: "München, wir hatten ein Riesenglück mit dem angekündigten Unwetter. Glaubt mir, das andere wird auch vorbeiziehen." Ob er sich da so sicher sein kann? Für manche Fans ist die Liebe schon vorbei.

Was wollen die anderen?

Vor dem Stadion treffe ich Luca, der sich bei Fridays for Future engagiert. Rammstein war seine Lieblingsband, sagt er. Er mochte vor allem ihren Antifaschismus. Doch für Luca hat sich das geändert. Er ist jetzt einer von 20 Demonstranten gegen das Konzert: "Wir müssen anfangen in unserer Gesellschaft, in diesem ganzen System, Frauen, die davon sprechen, dass sie belästigt oder vergewaltigt wurden endlich zu glauben. Immer wieder wird das abgetan und dann heißt es, denen geht es nur um Publicity. Wir müssen endlich anfangen, den Frauen Gehör zu verschaffen."

Vor dem Eingang demonstrieren AktivistInnen gegen Victim Blaming. Ihre Zahl ist überschaubar.

Für Luca ist die Entscheidung gefallen, er geht nicht zum Konzert, diskutiert jetzt lieber mit den anderen Fans, die vor den Demonstrierenden stehen und mit dem Kopf schütteln. "Ich meine, ich kann auch anders protestieren, ich kann meine Meinung auch anders kundtun. Muss man alles niedermachen? Weil wir ja sonst nichts mehr haben", sagt einer kopfschüttelnd. Die Fronten scheinen sich zu verhärten. Und das ist schlecht für eine Band, die eigentlich von der Widersprüchlichkeit lebt. Zunehmend geht es um Pro oder Contra, schwarz oder weiß. Nichts mehr mit Gleichzeitigkeit von Liebe und Hass, von Glück und Unglück.

Will ich Künstler und Werk noch trennen?

Und dazu doch wieder die alte Leier: Kann man Kunst und Künstler trennen? Kann man diese Frage jetzt überhaupt schon stellen? Aber sie wird schon überall gestellt, es geht um die Gedichtbände, das Solo-Projekt von Till Lindemann, in denen sein "Lyrisches Ich" ähnliche Dinge beschreibt, die ihm jetzt vorgeworfen werden. Ich habe diese Debatte früher immer für albern gehalten, war ganz sicher, dass Kunst und Künstler untrennbar, dass Marylin Manson, Michael Jackson, R.Kelly und co. für mich unhörbar sind. Aber das waren auch Typen, die mir nicht wichtig waren. Sollten sich die Anschuldigungen bewahrheiten, waren die Lindemann-Texte dann vielleicht doch nicht so schlau und viel eindeutiger als ich dachte? Ist der Song "Dicke Titten" zum Beispiel gar keine Satire auf machohafte Volksfest Mannsbilder, sondern bierernst gemeint?

So eine Reflexion tut weh. Ich kann verstehen, warum die Debatten so hochkocht. Warum manche nicht akzeptieren wollen, dass auch Idole Straftäter sein könnten – und für andere zu schnell feststeht, dass derjenige fallen muss, der zu hoch gestiegen ist.